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Die Hüter der Schatten

Die Hüter der Schatten

Titel: Die Hüter der Schatten
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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ein sehr verborgener Ort ist. Aber Claire ist Empathin. Vielleicht kann sie ihn aufspüren …«
    »Aber ich weiß, wo Simon steckt«, rief Leslie und setzte sich kerzengerade auf. »Ich habe ihm einen Schlüssel zu meiner Garage gegeben, das heißt … dem Atelier.«
    »Simon hat diesen Raum schon einmal benutzt«, bestätigte Colin. »Damals, als Alison nach ihrem ersten Schlaganfall bettlägerig war. Wahrscheinlich hält er ihn für einen Hort der Macht. Deswegen hat Alison Simon enterbt. Er hatte einen Ort entweiht, der ihr heilig war. Würde er diesen Ort tatsächlich noch einmal aufsuchen, obwohl Sie ihn kennen und wissen, was Simon dort möglicherweise vorhat?« Colin hielt inne und dachte nach. »Es kommt darauf an, wie weit seine Paranoia geht – nein, inzwischen müßte ich es Megalomanie nennen. Wenn er tatsächlich glaubt, daß Sie ihm derart verfallen sind, daß Sie sogar über einen Mord schweigen würden, gibt es keine andere Bezeichnung …«
    Simon denkt nicht nach! Das erkannte Leslie nun. Simon war eine gespaltene Persönlichkeit; die eine Hälfte seines Ichs war vor Verzweiflung fast wahnsinnig und hatte einen Plan ausgeheckt, der ihn für immer von seinem wahren Selbst entfremden würde. Ein Teil von ihm wünschte sich aufrichtig und verzweifelt, Leslie zu heiraten, mit ihr zu leben und Emily als seine gehätschelte Lieblingsschülerin zu einer großen Pianistin zu machen. Der andere, düstere Teil hingegen, der nun außer Kontrolle geraten war, wollte nur ein Ende der Schmerzen und sehnte sich danach, wieder als gefeierter Virtuose auf der Bühne zu stehen und den begeisterten Applaus des Publikums zu hören. Halb wahnsinnig vor Schmerz und Verzweiflung, war Simon sich gar nicht mehr bewußt, daß er nicht beides haben konnte. Ein Teil von ihm – das erkannte Leslie jetzt – war dazu fähig, Emily als Opfer darzubringen, während der andere Teil glaubte, Leslie und Emily würden die Freude über sein Comeback teilen.
    Und er hat Emily hypnotisiert, bis auch sie vielleicht glaubte, daß es ihre Pflicht und ihr Wunsch sei, sich für Simon zu opfern …
    Colin war bereits aufgesprungen.
    »Wir müssen versuchen, ihn aufzuhalten«, rief er. »Hoffen wir, daß zumindest ein Teil von ihm wünscht, daß wir ihm Einhalt gebieten. Kommen Sie! Rasch!«
    Während Leslie wie betäubt die Treppe hinunter zu ihrem Wagen eilte, dachte sie über Colins letzte Bemerkung nach. In jedem Verbrecher, jedem Verrückten steckte irgend etwas, das aufgehalten werden möchte. Der Massenmörder William Hierens, wie er mit Lippenstift an die Wände schrieb: ›Haltet mich auf, bevor ich noch mehr Menschen töte!‹ Simon, der sie bat, mit ihm fortzugehen: ›Laß uns nicht darüber nachdenken, laß es uns tun!‹
    In ihrer Eile und Verzweiflung hatte Leslie im Parkverbot gehalten. Jetzt flatterte ein orange-weißer Umschlag unter dem Scheibenwischer wie ein kleines Tier, das man gefesselt hat, um es zu opfern. Hastig steckte Leslie den Strafzettel in die Tasche; sie war nur froh, daß die Polizei ihr Auto nicht abgeschleppt hatte.
    »An eines müssen Sie denken«, sagte Colin, als er zu Leslie in den Wagen stieg. »Simon glaubt, daß er bereits als Mörder verdammt ist. Er weiß, daß er Alison getötet hat.«
    »Aber das ist unmöglich! Er lag im Krankenhaus, als Alison starb. Oder wollen Sie behaupten, die alte Frau sei aus Kummer über seine Tat gestorben?«
    »Ich habe im Haus dasselbe gesehen wie Sie«, erklärte Colin streng. »Und dasselbe, was auch Alison gesehen hat. Sicher, Simon lag im Krankenhaus, aber er stand unter so starken Betäubungsmitteln, daß er keinerlei Kontrolle mehr über sich hatte …«
    Ich glaube, ich spuke in deinem Haus. Plötzlich fügten alle Teile des Puzzles sich zusammen. Alison hatte Simon im Musikzimmer gesehen, seine gräßliche Erscheinung, die die zerbrechliche alte Dame ebenso gewiß getötet hatte, als hätte er den mentalen Vorschlaghammer gegen sie geführt, der ihr Cembalo zerschmettert hatte. Simon. Nackt und blutüberströmt. Blut rann aus seinem Auge, und seine Hand war zu einem Stück rohen Fleisches zerquetscht. Eine alte Frau, bereits durch einen Schlaganfall geschwächt, die schon ein kleiner Sturz das Leben kosten konnte. Eine solche Erscheinung hätte Alison in der Tat mit der Wucht eines Hammerschlags getroffen, selbst wenn sie sich nicht beim Sturz an der Klavierbank den Schädel eingeschlagen hätte.
    Vorsätzlich hätte Simon das niemals getan … aber er hatte
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