Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Hüter der Schatten

Die Hüter der Schatten

Titel: Die Hüter der Schatten
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
Vom Netzwerk:
das Messer, dessen scharfe Klinge im Kerzenlicht schimmerte.
    Colin vollführte eine rituelle Geste. Wieder leuchtete ein winziger Lichtblitz auf, und irgendwo rollte verhaltener Donner. Wie gelähmt stand Simon da. Selbst sein Auge zuckte nicht mehr, und über seine Lippen drang ein leises, grauenhaftes Knurren. Entschlossen trat Colin vor und stieß den Altar um. Mit dem Stiefel zerstreute er den Weihrauch und trat das Feuer aus.
    »Nein!« rief Colin noch einmal mit Donnerstimme, fuhr herum und schlug Emily fest ins Gesicht. Keuchend fuhr das Mädchen hoch, doch ihre Augen zeigten noch immer den ausdruckslosen Blick und suchten Simon. Eine entsetzliche, geisterhafte Stille herrschte im Raum; nur Leslies heftiges Atmen war zu vernehmen. Dann fauchte Simon noch einmal und kauerte sich wie zum Sprung zusammen. Er packte das Messer und näherte sich Colin, bereit, die Waffe gegen ihn einzusetzen. Simon schien völlig von Sinnen zu sein. In seinem Gesicht erkannte Leslie keine Spur des Mannes mehr, den sie liebte.
    »Simon«, rief Colin und stellte sich gelassen der zum Stoß erhobenen Messerklinge. »Nimm mich statt dessen. Ich bin alt. Meine Hände und mein Augenlicht bedeuten mir nichts, und mir sind nur noch wenige Jahre vergönnt. Aber um der Liebe der Frau willen, die uns beide ins Licht geführt hat, schenke ich sie dir gern. Simon, hör mich an! Wo immer deine Seele sich verbirgt, ich rufe sie! Wenn du dich nicht dem Willen der Herren des Karma zu beugen vermagst, nimm diese in Liebe gewährte Gabe! Streck mich nieder, nicht diese unschuldigen Kinder, die sich nicht wehren können! «
    Das Messer fuhr herab und traf den alten Mann in die Brust. Starr vor Entsetzen sah Leslie, daß Colin der Klinge nicht auswich. Doch als das Messer traf, taumelte Simon wie vom Blitz getroffen zurück und sank auf die Knie. Colin blutete, aber die Klinge war kaum einen Zentimeter tief eingedrungen. Das Messer löste sich aus der Wunde und fiel mit einem hellen Klirren zu Boden.
    Mit dem Fuß verwischte Colin die Kreidelinien. In diesem Augenblick schrie Emily auf, und als Leslies Blick wieder zu Simon huschte, sah sie, daß er von einem eigenartigen Schimmer umhüllt war, und in ihm, durch ihn hindurch, sah sie Simon, doch es war nicht der Mann, den sie gekannt hatte. Und immer noch kreischte Emily in einem so schrillen Ton, wie Leslie ihn nie zuvor vernommen hatte. Und dann stand Simon vor ihnen, eine durchscheinende Gestalt, die sich über dem am Boden kauernden, nackten fleischlichen Körper erhob.
    Blut strömte aus seinem verletzten Auge; das andere schien kobaltblaue Lichtblitze zu schleudern. Seine Hand war ein zerquetschter, blutiger Klumpen. Ein unartikuliertes Heulen voller Entsetzen und Qual hallte durch den Raum. Leslie hörte, wie sie scharf den Atem einsog.
    Plötzlich setzte Chrissy sich auf. Der schlaffe Mund nahm einen festen Ausdruck an.
    Und sie sprach. Doch es war nicht die tote, leere Kinderstimme, die Leslie schon einmal gehört hatte. Langsam wandte das Mädchen Simon das Gesicht zu – nicht dem wirklichen Simon, sondern dem wabernden, verstümmelten Astralleib, der sich in seinem Blut wand.
    »Simon«, begann Chrissy, doch es war nicht die Stimme eines Kindes, sondern die freundliche und zugleich ernste Stimme einer Frau. »Simon, mein geliebter Junge, endlich kann ich dich erreichen, kann zu dir sprechen … Ich glaubte, auch du würdest sterben. Ich wollte dich auf der anderen Seite erwarten, wollte dich willkommen heißen … Sonst wäre ich nicht hier, sondern noch bei euch, bei dir, hätte ich mich ans Leben geklammert …«
    »Alison.« Der wirkliche Simon, nicht sein Geist, stieß das harsche Wispern aus und starrte Chrissy an, die mit der Stimme seiner alten Freundin sprach.
    »Ich weiß, du hast es nicht gewollt. Du hättest mir niemals weh getan. Simon … Simon, mein lieber Junge, ich vergebe dir.«
    »Alison!« schrie er noch einmal qualvoll und entsetzt und stürzte an Chrissys Seite. Aber das Kindergesicht hatte wieder den schlaffen, leeren Ausdruck angenommen, und das Mädchen sank zurück. Simon starrte auf das Messer, das am Boden lag, und auf Colin, dem das Blut über die Brust rann, und auf Emily, die lautlos weinend dastand.
    Endlich fiel sein Blick auf Leslie, und seine blutüberströmte, geisterhafte Erscheinung war verschwunden. Schweigend strich er sich mit den Fingern der unverletzten Hand übers Gesicht. Sein Auge zuckte, er zitterte, und Leslie erkannte, daß er unerträgliche
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher