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Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes (German Edition)

Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes (German Edition)

Titel: Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes (German Edition)
Autoren: Ted Chiang
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entdecken. Als man die Turmuhren mit den für solche Eichungen verwendeten Uhren verglich, zeigte es sich sogar, dass sie die Zeit weiterhin akkurat maßen.
    Ich selbst fand diese Probleme äußerst faszinierend, war aber zu sehr in meine eigenen Studien vertieft, um diesen Vorgängen meine Aufmerksamkeit zu widmen. Ich forsche auf dem Gebiet der Anatomie, und damit der größere Zusammenhang meines weiteren Vorgehens verständlich ist, will ich kurz von meiner Beziehung zu meinem Forschungsfeld erzählen.
    Da wir sehr langlebig und tödliche Unglücksfälle die Ausnahme sind, stirbt glücklicherweise nur selten jemand, was jedoch die Erforschung der Anatomie erschwert, insbesondere da viele Unfälle, die so schwer sind, dass dabei jemand stirbt, die Überreste der Verunglückten zu sehr beschädigen, als dass sie noch für Studienzwecke brauchbar wären. Platzt eine volle Lunge, zerfetzt die Wucht ihrer Explosion den Körper und reißt das Titan wie Blech in Stücke. Anatomieforscher widmeten sich deshalb früher vor allem den Gliedmaßen, da diese noch am ehesten unversehrt blieben. In der ersten Anatomiestunde, der ich vor hundert Jahren beiwohnte, zeigte uns der Dozent einen abgetrennten Arm, dessen Verkleidung entfernt worden war, um die eng beieinander liegenden Stangen und Kolben freizulegen. Ich kann mich noch lebhaft daran erinnern, wie der Dozent, nachdem er die Arterienschläuche mit einer an der Wand des Labors angebrachten Lunge verbunden hatte, die Stangen am Stumpf des Armes bewegen konnte, sodass die Hand daraufhin ruckartig eine Faust bildete und sich wieder öffnete.
    In den darauffolgenden Jahren entwickelte sich die Anatomieforschung so weit, dass Anatomen beschädigte Gliedmaßen reparieren, gelegentlich sogar abgetrennte Glieder wieder anbringen konnten. Zudem haben wir es geschafft, die Physiologie lebender Subjekte zu studieren. Für meine Studenten habe ich die erste Lektion, die ich selbst besucht hatte, dahingehend abgeändert, dass ich die Verkleidung meines eigenes Armes freilegte, um den Erstsemestern zu zeigen, wie sich die Stangen dehnten und zusammenzogen, wenn ich meine Finger bewegte.
    Trotz dieser Fortschritte konnte eines der größten Geheimnisse von der Anatomieforschung bisher nicht gelöst werden – nämlich die Frage, wie unser Gedächtnis funktioniert. Zwar wissen wir ein wenig über die Beschaffenheit unserer Gehirne, doch die Physiologie des Gehirns lässt sich wegen seiner großen Empfindlichkeit weiterhin kaum untersuchen. Wird bei tödlichen Unfällen der Schädel verletzt, tritt das Gehirn explosionsartig in Gestalt einer goldenen Wolke aus, und außer zerfetzten Drähten und Plättchen, aus deren Untersuchung sich keine Erkenntnisse gewinnen lassen, bleibt nichts übrig. Die jahrzehntelang vorherrschende Theorie des Gedächtnisses besagte, dass die Erfahrungen einer Person auf feine Goldplättchen graviert werden; jene Goldplättchen eben, die nach einem Unglück von der Kraft der Explosion zerrissen werden und als kleine Flöckchen zurückbleiben. Anatomieforscher haben diese Goldplättchenfragmente – die so fein und dünn sind, dass Licht grünlich durch sie hindurchschimmert – früher gesammelt und Jahre damit zugebracht, ihre ursprüngliche Anordnung zu rekonstruieren, alles in dem Glauben, irgendwann die Symbole entziffern zu können, mit denen die letzten Erinnerungen der Verstorbenen aufgezeichnet wurden.
    Ich bin kein Anhänger dieser sogenannten »Einschreibungs-Hypothese«, und zwar deshalb, weil sie nicht begründet, warum unsere Erinnerungen unvollständig sind, obwohl sie der Theorie zufolge lückenlos aufgezeichnet werden. Fürsprecher der Einschreibungs-Hypothese erklären das Vergessen damit, dass sich im Laufe der Zeit die Position der Goldplättchen zum Gedächtnis-Lesestift verschiebt und die ältesten Plättchen schließlich gar keinen Kontakt mehr zu diesem Stift haben. Mich hat das aber nie überzeugt, obwohl ich nachvollziehen kann, was an dieser Theorie so verlockend ist. Ich habe ebenfalls viele Stunden damit verbracht, Goldplättchenfragmente durch das Mikroskop zu betrachten, und kann mir denken, wie befriedigend es wäre, am Rädchen der Schärferegulierung zu drehen und plötzlich lesbare Symbole erkennen zu können.
    Und wie wunderbar wäre es erst, wenn sich die ältesten Erinnerungen eines Verstorbenen entziffern ließen – Erinnerungen, deren er sich selbst nicht mehr zu entsinnen vermag! Keiner von uns kann sich weiter als etwa
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