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Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes (German Edition)

Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes (German Edition)

Titel: Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes (German Edition)
Autoren: Ted Chiang
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unbedacht ist, seinen Luftpegel zu weit absinken zu lassen, spürt, wie seine Glieder allmählich schwer werden und sich der Drang verstärkt, die Lungen wieder aufzufüllen. Äußerst selten kommt es vor, dass jemand nicht wenigstens eine Lunge rechtzeitig auswechseln kann, bevor das ihm eingesetzte Paar völlig leer ist. Geschieht so ein Unglück einmal – wenn jemand irgendwo feststeckt, sich nicht bewegen kann und niemand in der Nähe ist, der ihm hilft –, stirbt er, sobald sein Luftvorrat zur Neige gegangen ist.
    Im normalen Verlauf des Lebens verschwenden wir kaum einen Gedanken darauf, dass wir Luft benötigen, und viele würden sogar sagen, dass dieses Bedürfnis der unerheblichste Grund dafür ist, warum wir die Füllstationen aufsuchen. Diese Füllstationen sind der wichtigste Treffpunkt für den tagtäglichen gesellschaftlichen Austausch – hier stillen wir sowohl unsere emotionalen, als auch unsere körperlichen Bedürfnisse. Jeder hat Ersatzlungen zu Hause, doch alleine die eigene Brust zu öffnen und seine Lungen auszuwechseln, wird schnell zur lästigen Pflicht. Im Beisein anderer wird aus dieser Notwendigkeit allerdings eine gemeinschaftsstiftende Aktivität, eine geteilte Freude.
    Ist man gerade sehr beschäftigt oder ungesellig, kann man einfach ein volles Paar Lungen mitnehmen, sie einsetzen und die leeren Lungen auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes abstellen. Hat man jedoch ein wenig Zeit übrig, gebietet es die Höflichkeit, die leeren Lungen an den Luftspender anzuschließen, um sie für den nächsten aufzufüllen. Für gewöhnlich bleibt man aber eine Weile, erfreut sich der Gesellschaft anderer, tauscht Neuigkeiten mit Freunden und Bekannten aus und reicht seinen Gesprächspartnern beiläufig frisch gefüllte Lungen. Auch wenn diese Praxis keine Luftgemeinschaft im strengen Sinn des Wortes darstellt, stiftet sie eine gewisse Kameradschaft, die auf dem Wissen aller beruht, dass die Luft aus derselben Quelle stammt, denn die Luftspender sind nur die sichtbaren Endpunkte der Leitungen, die zum Vorratsspeicher tief unter der Erde führen, der großen Lunge der Welt, dem Quell all unserer Nahrung.
    Viele Lungen werden am nächsten Tag zum selben Luftspender zurückgebracht, doch genauso viele gelangen zu anderen Stationen, wenn die Leute einen benachbarten Bezirk besuchen. Die Lungen sehen alle gleich aus – glatte Zylinder aus Aluminium –, sodass sich nicht sagen lässt, ob eine bestimmte Lunge stets in der Nähe geblieben ist, oder ob sie eine lange Reise hinter sich hat. Und ganz so, wie die Lungen von einer Person zur nächsten, von einem Bezirk zum anderen wandern, verbreiten sich auch Nachrichten und Tratsch. Auf diese Weise erfährt man Neuigkeiten aus den entlegensten Bezirken, selbst aus jenen vom Rand der Welt, ohne dass man sich von zu Hause fortbegeben muss, allerdings reise ich selbst gerne. Ich habe den ganzen weiten Weg bis zum Rand der Welt zurückgelegt und die massive Chromwand gesehen, die sich vom Boden aufwärts in die Unendlichkeit des Himmels erstreckt.
    Bei einer der Füllstationen hörte ich zum ersten Mal von jenen Gerüchten, die mich zu meinen Untersuchungen anregten, welche schließlich zu meiner Erleuchtung führten. Es begann durchaus harmlos mit einer Bemerkung des Ausrufers unseres Bezirks. Wie es Brauch ist, rezitiert der Ausrufer an jedem Mittag des ersten Tages eines Jahres Verse – eine Ode, die vor langer Zeit für dieses jährliche Fest verfasst wurde und die vorzutragen genau eine Stunde dauert. Der Ausrufer erwähnte, dass die Turmuhr bei seiner jüngsten Darbietung der Verse bereits zur vollen Stunde schlug, bevor er seine Rezitation beendet hatte. Dergleichen war noch nie geschehen. Ein anderer, der sich in der Füllstation aufhielt, meinte, das sei aber ein Zufall gewesen, denn er sei gerade aus einem nahegelegenen Bezirk zurückgekehrt, und dort hätte sich der Ausrufer über dasselbe Missverhältnis beklagt.
    Niemand machte sich allzu viele Gedanken über diese Vorfälle, außer sie zur Kenntnis zu nehmen. Erst einige Tage später, als man von einer ähnlichen Abweichung zwischen den Versen des Ausrufers und dem Lauf der Turmuhr in einem dritten Bezirk erfuhr, vermutete man, diese Unstimmigkeiten könnten auf einen Defekt im Mechanismus der Turmuhren zurückzuführen sein, auch wenn es seltsam erschien, dass die Uhren schneller gingen und nicht langsamer. Horologen untersuchten die drei Turmuhren, aber sie konnten keinen Fehler
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