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Die Hirnkoenigin - Roman - Ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimipreis

Titel: Die Hirnkoenigin - Roman - Ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimipreis
Autoren: Thea Dorn
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»Hilfe, Sie sind ja wahnsinnig, so helfen Sie mir doch.«

    Kyra drehte sich zu ihm zurück. Er war nicht nur über achtzig. Er hockte nicht nur im Rollstuhl. Wie sie jetzt sah, war er auch noch blind. Zwei trübe Augen starrten an ihr vorbei. Die schwarze Brille hing ihm quer übers Gesicht.
    »Ist Nike Ihre Enkeltochter? Sagen Sie mir, wo sie ist, dann helfe ich Ihnen.«
    »Ich habe keine Enkeltochter.« Seine Stimme wurde fester.
    »Was weiß ich, dann ist dieser verdammte Bastard halt Ihre Urgroßnichte.«
    »Wagen Sie es nicht, in diesen Worten von Nike zu sprechen.« Er bebte am ganzen Körper. »Reden Sie nie wieder in diesen Worten von meiner Tochter.«
     
    Kyra starrte den Greis mit offenem Mund an. Dann begann sie zu lachen, dass die Rippen in ihrem Brustkorb krachten.
    »Hören Sie auf!« Der Methusalem herrschte sie an, als ob er schon vor zweitausend Jahren lachende Frauen angeherrscht hätte.
    Sie beruhigte sich wieder. »Ich bin nicht hergekommen, um mich verarschen zu lassen.«
    »Hören Sie auf, so zu reden, ich dulde in meinem Haus keine solche Sprache.« Er rückte die Blindenbrille auf seiner Nase zurecht.
    »Ah. Dann waren Sie das, der Ihrer Tochter dieses gewählte Sprechen beigebracht hat.«
    »Jawohl. Ich habe Nike erzogen.« Stolz lag in seiner Stimme. »Nike ist mein Werk. Alles, was sie ist, verdankt sie mir.«
    »Da kann ich nur gratulieren.«
    In einem Kraftakt war es dem Alten gelungen, sich aufzusetzen. Schnaufend lehnte er mit dem Rücken am Rollstuhl. Die schwarzen Gläser richteten sich auf Kyra. »Verlassen Sie mein Haus.«

    »Das werde ich nicht.«
    »Gehen Sie. Aus Ihnen spricht dieselbe Dummheit und Brutalität, die überall auf dieser Welt herrscht. Die Ignoranz, vor der ich Nike immer bewahrt habe.«
    Kyra musste schon wieder lachen. »Ich bin brutal? Soll ich Ihnen mal erzählen, was Ihre edle Tochter die letzten Wochen in Berlin so alles getrieben hat?«
    »Schweigen Sie still. Leute wie Sie werden niemals begreifen.«
    »Was begreifen?«
    »Dass Nike etwas ganz und gar Besonderes ist. Etwas absolut Kostbares.« Sein Atem hatte sich beruhigt. »Helfen Sie mir in den Stuhl. Dann werde ich Ihnen erzählen.«
    Kyra dachte eine Sekunde nach. Die Vorstellung, diesen despotischen Greis anzufassen, ekelte sie, aber die Neugier war stärker. Sie stand auf, ging zu dem Rollstuhl, stellte ihn auf die Räder, trat hinter den Alten, bückte sich, schob ihre Arme unter seinen Achseln hindurch und hievte ihn hoch. Beinahe hätte sie ihn fallen lassen, so stark wurden die Schmerzen in ihrer Brust. Sie biss die Zähne aufeinander und machte weiter. Als sie ihn endlich abgesetzt hatte, schleppte sie sich selbst zu einem der Sessel, die in dem Wohnraum standen. Der Schweiß lief ihr über die Stirn. Gut, dass der Alte sie nicht sehen konnte.
    »Jetzt erzählen Sie.«
    Er fingerte nach der karierten Wolldecke, die halb um seine Knöchel gewickelt war, halb zu seinen Füßen lag.
    Kyra würde nicht noch einmal aufstehen.
    Er ließ die Decke sein und setzte sich gerade. Wieder suchten die schwarzen Gläser ihre Richtung.
    »Ich war Lehrer«, begann er. »Vierzig Jahre lang habe ich Latein und Griechisch unterrichtet. Habe ich Tausende von Schülern studieren können. Bis ich begriff, warum aus ihnen keine echten Menschen werden konnten, sondern nur solch armselige Geschöpfe, wie sie unseren ganzen Planeten
überbevölkern.« Er richtete sich noch gerader auf. »Ich habe Nike gezeugt und erzogen, um zu beweisen, dass es ihn geben kann, den perfekten Menschen.«
    »Ach so?« Kyra blinzelte. »Wir reden hier über den perfekten Menschen?«
    »Jawohl. Das tun wir«, sagte er triumphal. »Nike ist der ideale Mensch. Gebildet. Rational. Von keiner Leidenschaft, von keinem Trieb verwirrt. Stets nach dem Höchsten strebend. Unerbittlich gegen sich selbst. Frei -«
    »Das ist nicht Ihr Ernst.«
    Er ignorierte Kyras Einwurf. »Nur aus Selbstperfektion kann Freiheit entstehen«, dozierte er weiter. »Der freie Mensch ist der, der erkennt, wie erbärmlich sein kreatürliches Menschsein ist. Und der sich nicht in die Erbärmlichkeit fügt, wie alle es tun, um sich dann auch noch Humanist zu schimpfen. Der wahre Humanist ist der, der sein Leben lang darum kämpft, den Menschen in sich zu überwinden.«
    Kyra grinste. »Dann ist Nike allerdings eine der größten Humanistinnen, die jemals frei herumgelaufen sind.«
    »Alles auf dieser Welt ist Erziehung. Von der ersten Sekunde an. Das ist es, was keiner
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