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Die Hexen - Roman

Die Hexen - Roman

Titel: Die Hexen - Roman
Autoren: Heyne
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fest davon überzeugt, von Dingen zu sprechen, die tatsächlich möglich waren. Und sie war auch überzeugt, selbst auf diesem geheimnisvollen Pfad zu wandeln, mitten im Straßburg des einundzwanzigsten Jahrhunderts.
    »Der Anhänger mag auf den ersten Blick billig erscheinen, doch es kommt darauf an, mit welcher Kraft ein Gegenstand aufgeladen ist«, fuhr Yvonne fort. »Rituale verändern die Wirklichkeit, weil dabei etwas geschieht, Raven, ob du mir nun glaubst oder nicht. Mit diesem Anhänger wollten wir die Göttin der Hexen um Schutz für dich bitten.«
    »Schutz bietet mir am ehesten die Polizei oder eine ordentliche Dosis Pfefferspray«, brummte Ravenna. Trotzdem entwirrte sie die dünne Lederschnur, an der das Amulett hing. »Ich werde den Anhänger tragen – dir zuliebe, Yvonne, denn du warst für mich da, als ich dich brauchte. Das werde ich dir nie vergessen.«
    Lächelnd fasste Yvonne ihre Schwester an der Hand und löschte das elektrische Licht.
    »Zieh die Schuhe aus«, flüsterte sie.
    Barfuß traten die Schwestern in den Kreis aus kaltem Kerzenwachs und Blütenblättern. Yvonne reckte die Arme, um Ravenna das Amulett um den Nacken zu legen. »Wir rufen dich an«, wisperte sie. »Dunkle Zauberin, große Hexe, Göttin der Druiden und Weisen Frauen, wir rufen dich und preisen deinen Namen. Wir bitten um deinen Schutz auf all unseren Wegen.«
    Plötzlich schien die Luft in der nächtlichen Küche zu flimmern. Einige Herzschläge lang stand Ravenna vollkommen still. Sie hielt die Augen geschlossen, um den unebenen Boden, den schwachen Blumenduft und den warmen Atem ihrer Schwester zu spüren. Es geschah tatsächlich eine Art Gegenzauber, eine Schutzmagie gegen die Erinnerungen, die sie seit Wochen quälten. Begierig ließ sie sich auf diese neue Erfahrung ein, die den Schauplatz des Überfalls in etwas Neues verwandelte: in eine Begegnungsstätte schwesterlicher Liebe.
    »So sei es«, murmelte Yvonne und hakte den Verschluss ein.

Maßarbeit

    Fröstelnd schnallte sich Ravenna die Koppel mit den daran befestigten Werkzeugen um die Hüfte und zog die Kopfhörer unter dem dicken Vliespulli hervor. Sie trug eine Latzhose mit eingearbeiteten Kniepolstern und einem Dutzend Taschen. Über den Pulli hatte sie eine regendichte Jacke gezogen. Verstaubte Stiefel mit Sicherheitskappen rundeten ihre Ausrüstung ab. Außerdem hatte sie eine Thermoskanne mit heißem Tee bei sich, denn das Wetter war alles andere als einladend: Sprühregen benetzte die Straßen und Dächer von Straßburg. Dichter Nebel hing über der Stadt.
    »Na, heute wieder in der Westfassade unterwegs?«, rief ihr ein Kollege zu. Er war ähnlich gekleidet wie sie und trug eine ähnliche Ausrüstung bei sich.
    Ravenna nickte, während sie die Arbeitshandschuhe überstreifte. »Ich bin noch immer mit diesem Wasserspeier beschäftigt. Der mit dem abgebrochenen Schnabel«, erwiderte sie. Erst in der vergangenen Woche hatte sie Eisenklammern tief im Stein verankert und die Fugen mit Blei ausgegossen, eine Technik, die bereits die Erbauer der Kirche beherrscht hatten. Jetzt wollte sie nachsehen, ob die Verfugung gehalten hatte.
    Mehr als siebenhundert Jahre hatte die Kathedrale von Straßburg Blitzschlägen, Stürmen und Kriegen getrotzt, doch der saure Regen, der seit wenigen Jahrzehnten auf das Bauwerk niederging, zerfraß den Buntsandstein wie Karies einen Milchzahn. Die Gesichtszüge von Statuen verwitterten, Fialen und Streben bröckelten ab – es war, als würde der Stein unter dem Einfluss von Wind und Wetter langsam dahinschmelzen.
    Ravenna seufzte, teils aus Sorge um das wunderschöne Bauwerk, teils aus Zufriedenheit über die großartige Arbeitsstelle, die sie in der Dombauhütte gefunden hatte. Eine aussichtsreiche Zukunft lag vor ihr, denn solange die Luft weiterhin mit Schadstoffen aus Industrieschloten, Autoabgasen, Kaminen und Schiffsmotoren verpestet wurde, die dann als ätzender Regenguss auf die Stadt niederprasselten, gab es genügend Arbeit für die Steinmetze. Und so verschoben sie ihre Gerüste Stück für Stück um das Bauwerk und bauten sie niemals vollständig ab.
    »Tut mir leid, aber dein Wasserspeier muss warten«, rief Jacques von unten. Geschickt kletterte der Vorarbeiter zu ihr auf das Gerüst. »Du musst etwas für mich erledigen. Ich habe heute einen Termin beim Zahnarzt.« Mit gespielt gequältem Ausdruck verdrehte er die Augen und bohrte einen Finger tief in die stoppelige Backe. »Ich habe eine neue Brücke bekommen
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