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Die Haarteppichknüpfer - Roman

Die Haarteppichknüpfer - Roman

Titel: Die Haarteppichknüpfer - Roman
Autoren: Bastei Lübbe
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Herr?«
    »Es geht das Gerücht, der Kaiser habe abgedankt.«
    »Der Kaiser? Kann der Kaiser abdanken? Kann die Sonne scheinen ohne ihn? Müssten nicht die Sterne am Nachthimmel erlöschen ohne ihn?« Der Händler schüttelte sein feistes Haupt. »Und warum kaufen mir die kaiserlichen Schiffer die Haarteppiche ab wie seit Jahr und Tag? Ich habe diese Gerüchte auch gehört, aber ich weiß nichts von all dem.«
    Auf einer großen, geschmückten Bühne wurden währenddessen die letzten Vorbereitungen getroffen für das Ritual, das der eigentliche Grund für das Kommen des Händlers war: die Übergabe der Haarteppiche.
    »Bürger Yahannochias, kommt und seht!« rief der Zeremonienmeister, ein weißbärtiger Hüne, gekleidet in Braun, Schwarz, Rot und Gold, den Farben der Gilde der Haarteppichknüpfer. Und die Menschen hielten inne, wandten ihren Blick zur Bühne und kamen langsam näher.
    Dreizehn Haarteppichknüpfer waren es in diesem Jahr, die ihre Teppiche beendet hatten und nun bereit waren, sie ihren Söhnen zu schenken. Die Teppiche waren auf großen Gestellen befestigt und mit grauen Tüchern verhüllt. Zwölf der Haarteppichknüpfer waren selbst anwesend, alte, gebeugte Männer, die sich mühsam auf den Beinen hielten und mit halb erblindeten Augen in die Runde blinzelten. Nur einer der Haarteppichknüpfer war bereits gestorben und wurde von einem jüngeren Gildemitglied vertreten. Auf der anderen Seite der Bühne standen dreizehn junge Männer, die Söhne der alten Haarteppichknüpfer.
    »Bürger Yahannochias, werft einen Blick auf die Teppiche, die den Palast des Kaisers schmücken werden!« Wie jedes Jahr ging ein ehrfürchtiges Raunen durch die Menge, als daraufhin die Haarteppichknüpfer ihre Teppiche enthüllten, die Werke ihres Lebens.
    Aber diesmal mischte sich bereits ein zweifelnder Unterton in den Akkord der Stimmen. »Hat man nicht gehört, der Kaiser habe abgedankt?«, fragte manch einer.
    Der Fotograf, der mit dem Tross des Händlers reiste, kam auf die Bühne und bot seine Dienste an. Wie es Tradition war, wurde jeder Teppich einzeln fotografiert, und mit zitternden Fingern nahm jeder der Haarteppichknüpfer das Bild entgegen, das der Fotograf mit seinem betagten, zerkratzten Gerät angefertigt hatte.
    Dann breitete der Zeremonienmeister die Arme aus in einer weiten, Ruhe gebietenden Geste, schloss die Augen und wartete, bis Stille eingetreten war auf dem großen Platz, auf dem jetzt jeder innehielt und gebannt die Vorgänge auf der Bühne verfolgte. Alle Gespräche verstummten, die Handwerker an den Ständen ließen Werkzeuge und Gerätschaften liegen, jeder blieb stehen, wo er war, und eine Stille trat ein, in der man jedes Kleiderrascheln hörte und den Wind, der im Gebälk der großen Häuser wehklagte.
    »Wir danken dem Kaiser mit allem, was wir haben, und allem, was wir sind«, sprach er nun feierlich die traditionelle Formel. »Wir bringen das Werk unseres Lebens dar zum Dank für den, durch den wir leben und ohne den wir nichts wären. Und wie jede Welt des Reiches das Ihre beiträgt, um den kaiserlichen Palast zu schmücken, so preisen wir uns glücklich, des Kaisers Auge mit unserer Kunst erfreuen zu dürfen. Er, der die hellsten Sterne am Himmel gemacht hat und die Dunkelheit zwischen ihnen, gewährt uns die Gunst, seinen Fuß auf die Werke unserer Hände zu setzen. Er sei gepriesen jetzt und für alle Zeiten.«
    »Er sei gepriesen«, murmelten die Menschen auf dem großen Platz und neigten ihre Köpfe.
    Der Zeremonienmeister gab ein Zeichen, und ein Gong wurde geschlagen. »Dies ist die Stunde«, rief er, den jungen Männern zugewandt, »da der ewige Bund der Haarteppichknüpfer erneuert wird. Jede Generation wird schuldig an der vorhergehenden, und sie trägt ihre Schuld ab an ihren eigenen Kindern. Seid ihr gewillt, diesen Bund zu halten?«
    »Wir sind gewillt«, erwiderten die Söhne im Chor.
    »So sollt ihr das Werk eurer Väter empfangen und schuldig werden an ihnen«, schloss der Zeremonienmeister die Formel und gab das Zeichen für den zweiten Gongschlag.
    Die alten Haarteppichknüpfer zogen ihre Messer hervor und durchtrennten vorsichtig die Bänder, die ihre Teppiche am Knüpfrahmen festhielten. Den Teppich vom Knüpfrahmen zu schneiden – das war der symbolische Akt, ihr Lebenswerk abzuschließen. Einer nach dem anderen traten die Söhne auf die Väter zu, die ihre Teppiche sorgsam zusammenrollten und ihnen in die Arme legten, nicht wenige mit Tränen in den Augen.
    Beifall
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