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Die Haarteppichknüpfer - Roman

Die Haarteppichknüpfer - Roman

Titel: Die Haarteppichknüpfer - Roman
Autoren: Bastei Lübbe
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fragte: »Kennt Ihr einen Abron?«
    Die meisten wussten mit diesem Namen nichts anzufangen, aber manche kannten ihn. »Abron? Der Sohn eines Haarteppichknüpfers, nicht wahr?«
    »Ja, kennt Ihr ihn?«
    »Eine Zeit lang war er oft in der Schule, aber sein Vater war dagegen, wie man hörte.«
    »Und jetzt? Was macht er jetzt?«
    »Ich weiß es nicht. Man hat ihn schon lange nicht mehr gesehen, sehr lange nicht mehr …«
    Dirilja schnitt es ins Herz, aber als sie eine alte Frau gefunden hatte, die Abron kannte, überwand sie sich und fragte: »Hat man gehört, dass er geheiratet hat?«
    »Geheiratet? Abron? Nein …«, sagte die alte Frau. »Das hätte ja letztes Jahr oder vorletztes Jahr auf dem Fest sein müssen, und davon wüsste ich, denn Ihr müsst wissen, dass ich direkt hier am Marktplatz wohne, in einer kleinen Kammer unter dem Dach jenes Hauses dort drüben …«
    Inzwischen hatten die Vorbereitungen für das Werben begonnen. Während die letzten Haarteppiche verkauft wurden, brachten Väter ihre Töchter im heiratsfähigen Alter an den Bühnenrand, und als der Haarteppichhändler mit dem Gildemeister die Bühne verließ, wechselte die Kapelle zu beschwingten Tanzweisen. Mit lockenden Bewegungen begannen die Mädchen langsam auf die jungen Haarteppichknüpfer zuzutanzen, die mit ihren Geldschatullen in der Mitte der Bühne standen und etwas verlegen das Schauspiel betrachteten, das ihnen da geboten wurde.
    Jetzt scharten sich die Stadtleute enger um die Bühne und klatschten anfeuernd. Die Mädchen ließen ihre Röcke wirbeln und drehten dabei die Köpfe, sodass ihre langen Haare durch die Luft flogen und im Licht der untergehenden Sonne wie bunte, irrlichternde Flammen aussahen. So tanzten sie auf die jungen Männer zu, die ihnen gefielen, berührten sie kurz an der Brust oder an der Wange und sprangen wieder zurück, lockten und reizten, lachten und klimperten mit den Augen, hoben wohl auch einmal für einen Moment den Rock über die Knie oder fuhren mit den Händen geschwind die Formen ihres Körpers nach.
    Die Menge jauchzte, als der erste aus dem Kreis der jungen Männer trat und einem der Mädchen nachging. Sie warf ihm verheißungsvolle Blicke zu, während sie scheinbar scheu zurückwich, und ließ die Spitze ihrer Zunge langsam über ihre halb geöffneten Lippen streichen, um die anderen auszustechen, die ihr Glück nun auch bei diesem versuchten, und lockte ihn bis zu ihrem Vater, sodass er diesen um ihre Hand bitten konnte mit der traditionellen Formel. Wie es üblich war, begehrte der Vater daraufhin, einen Blick in die Truhe des Haarteppichknüpfers zu werfen, und gemeinsam gingen sie durch das wilde Treiben zu dem Kreis in der Mitte der Bühne, aus dem sich jetzt auch die anderen jungen Männer nach und nach lösten, um ihre Hauptfrau zu wählen. Dort öffnete der junge Haarteppichknüpfer den Deckel seiner Schatulle, und wenn der Vater einverstanden war mit dem, was er darin sah, sprach er seine Einwilligung aus. Nun war es am Gildemeister, die Haare der Frau zu prüfen und, wenn keine Einwände bestanden, die Heirat zu vollziehen und ins Gildebuch einzutragen.
    Dirilja starrte auf die Bühne, ohne wirklich wahrzunehmen, was dort vor sich ging. Das Werben der Haarteppichknüpfer erschien ihr alberner und belangloser als jedes Kinderspiel. Noch einmal durchlebte sie die Stunden, die sie mit Abron zusammen gewesen war, damals, vor drei Jahren, als der Handelszug ihres Vaters das letzte Mal in Yahannochia Station gemacht hatte. Sie sah sein Gesicht vor sich, spürte die Küsse noch einmal, die sie getauscht hatten, spürte seine sanften Hände auf ihrem Körper und die Angst, ertappt zu werden bei ihrem Zusammensein, das längst alle Grenzen hinter sich gelassen hatte dessen, was sich für junge Leute schickte, die nicht verheiratet waren. Sie hörte seine Stimme und spürte noch einmal die Gewissheit von damals, dass dies wahrhaftig war.
    Plötzlich wusste sie, dass sie nicht weiterleben konnte ohne Aufklärung über das Schicksal Abrons. Sie mochte versuchen, Abron zu vergessen, aber der Preis, den sie dafür würde zahlen müssen, war der Verlust ihrer inneren Gewissheit. Niemals würde sie wissen, ob sie sich selbstvertrauen konnte. Es war keine Frage verletzter Ehre oder gekränkter Eifersucht. Wenn die Welt so beschaffen war, dass eine Gewissheit, wie sie sie gefühlt hatte, täuschen konnte, dann war sie es nicht wert, darin zu leben.
    Sie sah aus allen Fenstern des Wagens und konnte ihren
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