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Die Haarteppichknüpfer - Roman

Die Haarteppichknüpfer - Roman

Titel: Die Haarteppichknüpfer - Roman
Autoren: Bastei Lübbe
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zum zweiten Mal aus der Hafenstadt zurückgekehrt war mit einem zweiten Paket Bücher – und einem unglaublichen Gerücht.
    »Bist du sicher?«, hatte Parnag sich vergewissern müssen.
    »Ich habe es von mehreren der fremden Händler gehört. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich abgesprochen haben.«
    »Eine Rebellion?«
    »Ja. Eine Rebellion gegen den Kaiser.«
    »Ist das denn möglich?«
    »Sie sagen, der Kaiser müsse abdanken.«
    Danach kam Abron nicht wieder. Irgendwann trug jemand Parnag unter dem Siegel der Verschwiegenheit zu, dass Abron nicht mehr lebte. Offenbar hatte er zu Hause ketzerische, gotteslästerliche Reden geführt, worauf ihn sein Vater zu Gunsten eines neugeborenen Sohnes getötet hatte.
    Parnag erkannte in diesem Moment den ganzen Umfang seines Frevels. Er hatte es seinem Zweifel erlaubt, ein junges, vielversprechendes Leben zu zerstören. Er hatte Unglück gesät. Ohne ein Wort der Erklärung löste er den Diskussionskreis auf und weigerte sich, die darin aufgeworfenen Fragen jemals wieder zu erörtern.
    Als er nun im Kreis seiner Schüler zum Marktplatz trottete, befiel ihn ein Gefühl von Depression. Es war ein kühler, sonniger Tag, aber ihm war, als zöge er durch ein nachtschwarzes Tal. Er versank in seinen Erinnerungen wie in Treibsand. Am Rande seines Bewusstseins beobachtete er sich, wie er einige unentschlossene Anstrengungen machte, die Schar der Kinder zusammenzuhalten, aber im Grunde war es ihm gleichgültig, und er überließ sie sich selbst.
    Der Prediger saß auf einem der Steinpodeste, zwischen denen bei Festen die Bühne errichtet wurde. Eine Schar von Menschen jeden Alters und Standes hatte sich versammelt und lauschte seinen Worten.
    »Auf meinen weiten Wanderungen treffe ich in jeder Stadt Menschen, die mir berichten, dass es ihnen schlecht geht und dass sie leiden, sei es an Hunger oder Armut oder unter ihren Mitmenschen«, rief er gerade in dem psalmodierenden Tonfall der Wanderprediger, der seine Stimme weit trug. »Sie erzählen mir davon, weil sie hoffen, dass ich ihnen helfen kann – vielleicht durch einen guten Rat, vielleicht durch ein Wunder. Aber ich kann keine Wunder bewirken. Ich habe auch keinen guten Rat, jedenfalls keinen, den ihr euch nicht selber besser geben könntet. Alles, was ich tue, ist, euch an etwas zu erinnern, das ihr vielleicht vergessen habt- nämlich dass ihr nicht euch selbst, sondern dem Kaiser, unserem Herrn, gehört und dass ihr nur leben könnt, wenn ihr durch ihn lebt!«
    Jemand brachte ihm eine Frucht als Opfergabe, und er unterbrach seine Predigt mit einem dünnlippigen Lächeln, um die Gabe entgegenzunehmen und zu den anderen Dingen zu legen, die er neben sich aufgehäuft hatte.
    »Und wenn ihr leidet«, fuhr er beschwörend fort, »leidet ihr nur aus einem einzigen Grund: weil ihr das vergessen habt. Und dann versucht ihr, für euch selber zu denken, und das Unglück beginnt. Oh!« Seine rechte Hand hob sich mahnend. »Es ist so leicht zu vergessen, dass ihr des Kaisers seid. Und es ist so schwer, euch immer und immer wieder daran zu erinnern.«
    Sein Arm ragte seltsam dürr aus dem Ärmel seiner zerschlissenen Kutte in die Höhe. Parnag beobachtete die Szenerie düsteren Blicks. Das Gefühl, sein Leben verpfuscht zu haben, wollte ihn nicht mehr loslassen.
    »Was glaubt ihr denn, warum wir überall auf dieser Welt so angestrengt mit nichts anderem beschäftigt sind, als Haarteppiche zu knüpfen? Tun wir das nur, damit unser Kaiser seinen Fuß nicht auf den bloßen Stein setzen muss? Da gäbe es sicher andere und einfachere Abhilfen. Nein, all dies, all die Rituale, sind nichts anderes als gnädige Geschenke unseres Kaisers an uns, sind seine Hilfsmittel, mit denen er verhindern will, dass wir ihm verloren gehen und dann in unseren Untergang rennen. Nichts anderes ist der Sinn. Bei jedem Haar, das der Haarteppichknüpfer aufnimmt und verknotet, denkt er: Ich gehöre dem Kaiser. Und ihr anderen, ihr Viehhirten und Ackerbauern und Handwerker, ihr seid es, die dem Haarteppichknüpfer seine Arbeit ermöglichen. Ihr habt genau das gleiche Recht, bei jedem eurer Handgriffe den Gedanken zu wiederholen: Ich gehöre dem Kaiser. Ich tue dies für den Kaiser. Und ich selbst«, fuhr er fort und faltete die Hände in einer demutsvollen Geste vor der Brust, »bin nur ein weiteres bescheidenes Werkzeug seines Willens, indem ich umherziehe und allen Menschen, denen ich begegne, zurufe: Erinnere dich!«
    Parnag fühlte sich unbehaglich.
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