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Die großen Erzählungen

Die großen Erzählungen

Titel: Die großen Erzählungen
Autoren: dtv
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unsentimental durcheinander. Der Offenbarungsblick, den der Erzähler beim Abschied am Bahnhof hinter dem Rücken des Eisenbahnassistenten aber schlussendlich von dem schönen Mädchen noch erhält, erzählt sprichwörtlich Bände oder, um es mit Joseph Roth zu formulieren: »in meinen Augen lag eine lange Rede«. (S. 56) Nur um dieser langen Rede ihrer Augen bzw. ihres Blickes willen »habe ich«, so sein Geständnis, »diese Geschichte geschrieben.« (S. 61)
    Die Wendungen lassen sich auch als ein poetologisches Programm für Joseph Roths erzählerisches Werk lesen, das sich ab 1925 in beeindruckender Weise aufzutürmen beginnt. Von hier, von solchen erzählenden Kunststücken wie dieser aussichtslos-heiteren Liebesgeschichte, führt der Aufstieg des Journalisten Joseph Roth in die Weltliteratur, und zwar basierend auf eben jenen Voraussetzungen, die die Geschichten Abels, des Eisenbahnassistenten, des schönen Mädchens, der Hotelangestellten Anna und schließlich desErzählers selbst charakterisieren. Der Erzähler kann mit seiner Profession nicht zurückhalten und gibt Anna – ob sie diesen Zusammenhang versteht, ist zweifelhaft – auf ihre Frage, warum er ihr von Abel erzähle, eine gediegene poetologische Erklärung: »›Anna‹, sagte ich, ›alle Geschichten hängen zusammen. Weil sie einander ähnlich sind oder weil jede das Entgegengesetzte beweist.‹« (S. 47)
    Oft ist gerätselt worden, wo die Wende in Joseph Roths Werk von der Neuen Sachlichkeit zur literarisch-poetischen Produktion anzusetzen sei, wo sich die Berichtsliteratur in gestaltete Realität veränderte, wo glühender Sozialismus in monarchistische Nostalgie umschlug: Wenn man sich an das bescheidene Programm aus der Geschichte von 1925 hält, dann gibt es diese Wende gar nicht, dann lassen sich alle Erzählungen, alle Geschichten und Romane von Joseph Roth als ein Zusammenhang erkennen. Sie sind einander ähnlich, sogar wenn sie das Gegenteil beweisen sollten, und sie besitzen auch Ähnlichkeiten und Gegensätzlichkeiten mit Szenen aus dem Leben ihres Verfassers. In seiner Person treffen sie aufeinander.
    Ein kleiner exemplarischer Spaziergang durch die Erzählungen, die hier vorgelegt werden, mag unter Aussparung der großen literarischen Formen des Romans zeigen, dass sich bestimmte Grundgegebenheiten in Joseph Roths Geschichten wiederholen und zu Ähnlichkeiten und Korrespondenzen oder auch zum Gegensätzlichen zusammenfügen lassen. Die Wiederholung ist jedoch stets schöpferische Variation, die den Autor und sein Weltbild erkennen lässt. Da setzt sich die Mini-Geschichte aus der ›Geschichte einer Liebe‹, die Geschichte von Abel, der nach New York fährt und es sofort wieder verlässt, fort in der Geschichte vom ›Stationschef Fallmerayer‹. In ihrem Protagonisten bietet der Erzähler alle Voraussetzungen auf, um ihn als einen Menschen von ungewöhnlicher Gewöhnlichkeit, als zum Typus »Eisenbahnassistent«gehörig zu qualifizieren: das Milieu der »kleinen Leute«, die Trägheit der dahinwelkenden Donaumonarchie vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, eine moderate Abgestumpftheit seiner bürgerlich-kleinbürgerlichen Verhältnisse. »Und der Regen regnete« (S.  65) jeglichen Tag, wie so oft in den Erzählungen. Damit ist eigentlich Roths höchste Verachtung zum Ausdruck gebracht.
    Aber die Geschichte des Stationschefs beweist das Entgegengesetzte, beweist ihn als einen, der wie Abel zugrunde geht, weil er eine Sehnsucht hat. »Er verlor sein Leben ... auf eine verblüffende Weise.« Gegen alle Erwartungen trifft ihn ein »ungewöhnliches Geschick« (S. 63), ein Geschick, wie es den Primus Anton Wanzl in der frühen Erzählung ›Der Vorzugsschüler‹ aus unerfindlichen Gründen nicht ereilt. Er ist sozusagen der Ur-Eisenbahnassistent und als solcher geistert er und auch sein Gegenteil durch alle Geschichten von Joseph Roth. Jeder wird auf minimal-karikierende Weise geoutet. Faltet der eine seine Hose im Bug zusammen, bevor er zu (s)einer Frau ins Bett steigt, zeigt der Ur-Typ die erste menschliche Regung, wenn er im Sarg liegt. Tief drinnen im schwarzen Metallsarg liegend, so der seinerseits emotionslos berichtende Erzähler, passiert das Unglaubliche: »Anton Wanzl lachte zum ersten Male.« (S. 23) Der phantasielose Streber und Karrierist geht mit diesem Lachen in der Tat zum ersten Male auf ironische Distanz zu sich und seinem Leben.
    Wie das Leben, so auf verblüffende Weise der Abschied bzw. der Tod: Die Figuren
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