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Die großen Erzählungen

Die großen Erzählungen

Titel: Die großen Erzählungen
Autoren: dtv
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aus autobiografischen Motiven zu einer Art überhöhten Selbstdarstellung entwickelten ›Legende vom heiligen Trinker‹: »Gebe Gott uns allen, uns Trinkern, einen so leichten und so schönen Tod.« Sie wurde wenige Wochen vor seinem Tod vollendet und erschien postum.
    Von 1925 bis 1939, ein Zeitraum, den die beiden Pariser Geständnisse markieren, bildet sich Joseph Roth aber nicht nur zum »heiligen Trinker« aus, sondern nach einigen poetischen Vorübungen verwandelt sich der lyrische Feuilletonist und bewährt sich glänzend seiner eigentlichen Bestimmung nach als Erzähler und Romanautor. Zwei Geschichten flankieren diese Wandlung und sie lassen Erhellendes auch über des Dichters Leben und Schreiben durchscheinen. In eben jenem Jahr des Glücks 1925 legte Joseph Roth die Erzählung ›April. Die Geschichte einer Liebe‹ vor; sie ist zart und, obgleich die Liebe unerfüllt bleibt, doch sehr hoffnungsfroh. Am anderen Ende des steilen Bogens steht die Novelle ›Der Leviathan‹, die als letzte Veröffentlichung zu Lebzeiten im Oktober / November 1938 in der ›Pariser Tageszeitung‹ erschien. Sie endet mit einem mit der ›Legende vom heiligen Trinker‹ korrespondierenden Schlusssatz, einer Wendung aus Hoffnung und Wunschdenken, wie sie sich an Gräbern versteht und dort üblich ist. »Möge er dort«, so die formelhafte Rede über den auf dem Grund des Ozeans ertrunkenen Korallenhändler Nissen Piczenik, »in Frieden ruhn neben dem Leviathan bis zur Ankunft des Messias.« (S. 194) In diesem wie im Falle von Joseph Roths unausweichlichem Tod leuchtet am Ende aller Lebenserwartungen metaphysischeHoffnung auf Heimat auf, die die reale Heimatlosigkeit von Figur und Autor beenden könnte.
    Hoffnung, entschiedene Lebenshoffnung, beleuchtet auch das Ende der relativ frühen Erzählung ›April‹, die sich dem Publikum ja noch nicht als vom berühmten Verfasser des ›Radetzkymarsches‹ (1932), des ›Hiob‹ (1930), des ›Falschen Gewichts‹ (1937) oder der ›Kapuzinergruft‹ (1938) vorstellen konnte. »›Das Leben ist sehr wichtig!‹ lachte ich. ›Sehr wichtig!‹ und fuhr nach New York.« (S. 61) Der Ich-Erzähler der Geschichte, der so hoffnungsfroh spricht, ist zwar nicht mit dem Autor Joseph Roth identisch, aber das Phantasiegebilde, das der gestalthungrige Dichter als seine Blaupause anbietet, scheint erstaunlich oft einer Meinung mit ihm. Neben stilistisch charakteristischen Wendungen enthält der Text nämlich eine inhaltlich merkwürdige Passage, in der sie ihre gemeinsamen Erfahrungen zum Austausch bringen. »Anna«, so der Ich-Erzähler, »konnte den Zusammenhang zwischen Abel, meinem Freund, und dem langen Eisenbahnassistenten nicht begreifen.« (S. 47) In der Tat ist für Anna der Zusammenhang von zwei kleinen Episoden, den ihr ihr Liebhaber zu begreifen nahelegt, schwer zu verstehen. Dieser Liebhaber ist ein in ihrem Hotel einquartierter reisender Schriftsteller, den Joseph Roth gleichzeitig zum immanenten Erzähler seiner ›Geschichte einer Liebe‹ bestimmt. Diese Geschichte einer Liebe ist eigentlich eine doppelte Liebesgeschichte, eine mit Anna und eine mit dem schönen, angeblich todkranken Mädchen am Fenster des Postmeisterhauses. Die Liebe zu Anna ist eher eine durch schnelle Ermüdung bestimmte gewöhnliche Bettgeschichte, die Liebe zu dem schönen Mädchen ist dagegen ein durch Überreizung gekennzeichnetes poetisches Liebesverhältnis. Beide stehen in Kontrast zueinander.
    Auch in den Anna zur Vergleichung anempfohlenen Episoden geht es um zwei sehr verschiedene Arten der Liebe:zum einen um die nicht minder poetische Liebe des Freundes Abel, der an seiner Sehnsucht zugrunde geht, und zum anderen um die Liebesübungen des beiden verhassten Eisenbahnassistenten in dem kleinen Städtchen, in dem der Erzähler Aufenthalt genommen hat. Wenn der Eisenbahnassistent liebte, so die vernichtende Darstellung durch den Erzähler, »so legte er bestimmt die Kappe mit der Öffnung nach oben sorgsam auf einen Stuhl.« Es kommt noch schlimmer, wenn der Erzähler noch nachschiebt: »Er vergaß nicht, die Hose im Bug zusammenzufalten.« (S. 46) Aber der Eisenbahnbeamte wird, anders als Abel, leben und wahrscheinlich Stationsvorsteher werden.
    Dass sich das schöne kranke Mädchen am Fenster, für das der Erzähler romantisch entbrennt, am Ende als die gesunde Braut oder Frau des Eisenbahnassistenten entpuppt, wirbelt die Vorstellungen von gewöhnlichen und poetischen Liebesverhältnissen recht
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