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Die große Verschwendung

Die große Verschwendung

Titel: Die große Verschwendung
Autoren: Wolfgang Schoemel
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aufzugeben, so auch die Idee mit der Briefmarke. Der Referent hatte ein Telefonat mit einem Abteilungsleiter der Deutschen Post AG in einer schönen satirischen Art protokolliert und Glabrecht damit zum Lachen gebracht. Kam jedoch eine Antwort mit schlechten Formulierungen und Versuchen, ihn für dumm zu verkaufen, geschah, mit grüner Tinte geschrieben, die »nukleare Eskalation«. Dann holte Glabrecht die Folterinstrumente raus, sprach von »unerträglicher Bedenkenträgerei«, bat beispielsweise um genaue Zahlen oder Statistiken, um die »Aufarbeitung aller Akten«, oder er listete die vom Referenten zu kontaktierenden Personen auf, befahl die Einberufung extrem lebenszeitverschwendender großer »Expertenrunden«, das Führen und Vorlegen von Protokollen und was es noch so an Gemeinheiten und Widerwärtigkeiten des Beamtenlebens gab. Zusätzlich wurden die jeweiligen Abteilungsleiter, selbstverständlich unter Zurkenntnisnahme auch durch die Staatsrätin und den Amtsleiter, scharf gemacht und damit beauftragt, den Fortgang der Arbeiten »ständig zu überprüfen«. Die Abteilungsleiter gaben diese Aufträge dann an den zuständigen Bereichsleiter weiter. Die ganze Hierarchiekette stand sozusagen Gewehr bei Fuß und teilte die Empörung Glabrechts über den widerspenstigen Referenten.
    Es hatte einen ganz eigenen Reiz, in anderen eine vollkommen aussichtslose Wut hervorrufen und sie betrachten zu dürfen. Glabrecht war sich dennoch ganz sicher, verglichen mit anderen Politikern und Machthabern ein vergleichsweise kleines Arschloch zu sein.
    Er öffnete die Tür zum Vorzimmer, wo bereits R und B1 standen und warteten, selbstverständlich auch »Ö«, Frau Tannenhart, »Ö« wie »Öffentlichkeitsreferentin«. Glabrecht hatte sie bereits vor sieben Jahren auf Empfehlung seiner Frau von der Berliner taz abgeworben. Jetzt verdiente sie gutes Geld und kaufte sich sogar schöne Klamotten, teure Schuhe und Schminkzeugs. Intellektuell hätte Glabrecht mehr von ihr erwartet. Dennoch würde sie irgendwann in seiner Partei ganz oben sein. Schließlich war sie eine Frau, wenn auch keine mit Migrationshintergrund.
    Das Gemurmel im Vorzimmer erstarb sofort. Frau Scholz sprang auf und huschte an Glabrecht vorbei ins Chefbüro, um die bearbeiteten Vorgänge abzuholen. Sie würde alle grüntintig erteilten Aufträge noch einmal in den Kalender von Outlook hineinschreiben. Falls kein anderer Termin genannt wurde, galt, wie immer: Deadline für die Wiederankunft des betreffenden Vorgangs beim Senator in zwei Wochen.
    R, Herr Dr. Wischmann, sah völlig kaputt aus in seinem schlecht sitzenden Outlet-Anzug. Offensichtlich war er zu geizig, um sich anständige Klamotten zuzulegen. Die Krawatte war ein Grauen, das Schuhwerk stammte aus der schrecklichen Neunzig-Euro-Klasse. Irgendwie hing alles an ihm runter, auch seine Schultern hingen hinab, vom vielen Unterwürfig-Sein nach unten gedrückt.
    »Na, Herr Dr. Wischmann, haben Sie denn noch ein bisschen geschlafen heute Nacht?«
    R grinste und schwieg. Er wusste, dass sein Chef auf keinen Fall eine Antwort hören wollte.
    Ö und B1 lachten, weil auch Glabrecht gerade lachte. Sie lachten immer, wenn Glabrecht lachte. Wenn er böse guckte, schauten sie ebenfalls verärgert. Wenn er grübelte, zogen sie ihre Stirn in Falten. Glabrecht hatte für dieses Phänomen die Bezeichnung »mimetisches Arschkriechen« erfunden. Überall wurde er mit mimetischen Arschkriechern konfrontiert. Er hatte sich eigens für diese Leute angewöhnt, ganz überraschend seinen Gesichtsausdruck zu verändern. Zum Beispiel wechselte er von einem gütigen Grinsen unvermittelt hinein in eine skeptisch-argwöhnische Miene und beobachtete, ob seine Nachahmer mimisch mithalten konnten. Manchmal mussten sie ein paarmal ansetzen, bis sich die vorgegebene Mimik richtig justiert hatte. Es waren diejenigen, die eine Karriere machen würden, bis zu einer mittleren Leiterstufe, egal, in welcher Institution, es war überall so. Auch bei den Entwicklungshelfern in Eschborn war es nicht anders gewesen. Die ideale Kombination bot der mimetisch arschkriechende, mittelmäßig gut aussehende und arbeitssüchtige Optimist. Zu viel Talent und Geist waren äußerst hinderlich. Ebenfalls schädlich waren irgendein nennenswerter Sexualtrieb, philosophischer Pessimismus und Gedanken an die Kürze der individuellen Lebenszeit. Ekstatiker hatten ebenfalls keine Chance mehr, ebenso wenig wie alle anderen markant ausgeprägten Charaktere. Auch
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