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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze
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die Schattengrenze zurückversetzt würdest, auf einen der großen Märkte der südlichen Hafenstädte, und dort Menschen aus der ganzen, weiten Welt in all ihren unterschiedlichen Gestalten, Größen und Farben an einem Ort sähst, würdest du doch über ihre Einförmigkeit staunen, nachdem du die Qar in ihrer hohen, dunklen Halle versammelt gesehen hast. Manche sind so überwältigend schön wie junge Götter, so groß und wohlgestaltet wie die majestätischsten Königinnen und Könige der Menschen. Andere sind so klein wie Mäuse. Wieder andere sind Wesen aus den Albträumen Sterblicher, klauenfingrig, schlangenäugig, bedeckt mit Federn, Schuppen oder öligem Pelz. Sie füllen die Halle vom einen Ende zum anderen, gestaffelt nach komplizierten, uralten Rangordnungen, tausend verschiedene Gestalten, geeint nur durch die heftige Abneigung gegen die Menschen und, in diesem Moment, durch tiefes Schweigen.
    Am Kopfende des langen, spiegelgesäumten Raums sitzen zwei Gestalten auf hohen Steinthronen. Beide sind von menschenähnlichem Aussehen, aber mit einem so übernatürlichen Einschlag, daß nicht einmal ein betrunkener Blinder sie tatsächlich für Menschen halten könnte. Beide sitzen ganz still, aber bei der einen fällt es schwer zu glauben, daß sie keine Statue aus hellem Marmor ist, so steinern wie der Stuhl, auf dem sie sitzt. Ihre Augen sind offen, aber so leer wie gemalte Puppenaugen, als ob die Seele aus dem anscheinend jungen, weißgewandeten Körper entflohen und so weit davongeflogen wäre, daß sie nicht mehr zurückfindet. Die Hände liegen in ihrem Schoß wie tote Vögel. Sie hat sich seit Jahren nicht mehr bewegt. Nur das kaum merkliche Heben und Senken der Brust in quälend langen Abständen verrät, daß sie atmet.
    Ihr Gefährte ist zwei Handbreit größer als ein durchschnittlicher Sterblicher, aber das ist auch schon das Menschenhafteste an ihm. Das blasse Gesicht, das einst überwältigend schön war, ist über die Jahrhunderte so hart und scharf geworden wie ein windgeschliffener Felsgrat. Er ist immer noch von einer schrecklichen Schönheit, so gefährlich anziehend wie die Gewalt eines Sturms, der übers Meer braust. Seine Augen, da bist du dir sicher, wären so klar und tief wie der Nachthimmel, unendlich kühl und weise, aber sie verbergen sich unter einem Tuch, das am Hinterkopf geknotet und von seinem langen, mondsilbernen Haar verhangen ist.
    Es ist Ynnir, der blinde König, aber die Blindheit ist nicht nur auf seiner Seite. Nur wenige Sterbliche haben ihn geschaut, und kein lebender Mensch, ob Mann oder Frau, hat ihn je außerhalb von Träumen erblickt.
    Der Herrscher des Zwielichtvolkes hebt die Hand. Es war bereits still in der Halle, aber jetzt wird die Stille noch tiefer. Ynnir flüstert, aber alles im Raum hört ihn.
    »Bringt das Kind.«
    Vier kapuzenverhüllte, menschenähnliche Gestalten bringen eine Trage aus dem Schattendunkel hinter den Zwillingsthronen und setzen sie zu Füßen des Königs ab. Darauf liegt, zusammengekrümmt, etwas, das aussieht wie ein männliches Menschenkind; das feine, strohblonde Haar klebt in feuchten Kringeln um das schlafende Gesicht. Der König beugt sich vor, als ob er trotz seiner Blindheit das Kind betrachten und sich seine Züge einprägen wollte. Er greift in seine grauen Gewänder, die einst prächtig waren, jetzt aber sonderbar fadenscheinig und fast so staubig wie die großen Spiegel sind, und zieht einen kleinen Beutel an einer Schnur hervor, die Art Säckchen, in der ein Sterblicher vielleicht ein Amulett oder heilkräftige Kräuter um den Hals tragen würde. Ynnirs lange Finger streifen dem Knaben behutsam die Schnur über den Kopf, schieben dann den Beutel unter sein grobes Hemd, auf die schmale Kinderbrust. Dabei singt der König leise und monoton vor sich hin. Nur die letzten Worte sind laut genug, daß man sie versteht.
Bei Stern und Stein, es ist getan
Nicht Stein noch Stern vereiteln soll den Plan
    Ynnir schweigt eine ganze Weile, ein Zögern, das fast schon menschlich wirkt. Doch als er dann spricht, sind seine Worte klar und bestimmt. »Bringt ihn weg.« Die vier Gestalten heben die Trage an. »Paßt auf, daß euch im Sonnenland niemand sieht. Reitet schnell hin und zurück.«
    Der Anführer der Vermummten neigt einmal kurz den Kopf, dann sind sie mit ihrer schlafenden Last verschwunden. Der König wendet sich kurz der blassen Frau an seiner Seite zu, fast als würde er erwarten, daß sie ihr langes Schweigen bricht. Aber sie
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