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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze
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kunstvollen Flickenrock. Ein schmaler Dammweg zieht sich von der Burg zum Festland wie eine Schleppe, fächert sich dann auf zum Festlandsteil der Stadt, der in den Hügelfalten und am Buchtufer liegt. Die alte Festung ist jetzt Wohnstatt von Menschen, wirkt aber dennoch zuweilen wie etwas anderes, etwas, das sich an diese Sterblichen gewöhnt hat und sich sogar herabläßt, ihnen Schutz zu gewähren, sie aber nicht wirklich liebt. Dennoch fehlt es ihr nicht an Schönheit, dieser imposanten Stätte mit ihren stolzen, windgezausten Fahnen und ihren sonnenlichtgefleckten Straßen. Doch obwohl diese Felsenburg der letzte helle und einladende Ort ist, den du siehst, ehe du in das Land der Stille und des Nebels gelangst, und obwohl das, was du dort in Kürze sehen wirst, finstere Folgen für diesen Ort haben wird, endet deine Reise nicht hier in Südmark — noch nicht. Heute ruft es dich anderswohin.
    Du suchst den Spiegelbildzwilling dieser Burg, weit droben im Norden, die mächtige Festung der unsterblichen Qar.
    Und jetzt, so plötzlich, als trätest du über eine Schwelle, bist du in deren Zwielichtland. Und obgleich die Feste Südmark, nur einen kurzen Ritt hinter dir, jenseits der Schattengrenze, noch von heller Nachmittagssonne beschienen ist, liegt diesseits des nebligen Grenzwalls alles in ewiger Abendstille. Die Wiesen sind hoch und dunkel, das Gras glänzt von Tau. Tief über den Hals des Windes gebeugt, bemerkst du, daß die Straßen unter dir so bleich wie Aalfleisch schimmern und ein kompliziertes Muster zu bilden scheinen, als ob ein Gott sein geheimes Tagebuch in den nebelverhangenen Erdboden geschrieben hätte. Du fliegst hoch über sturmwolkenverhüllte Berge hinweg und über Wälder, so weit wie Königreiche. Im Dunkel unter den Bäumen glühen Augen, und Stimmen wispern durch leere Schluchten.
    Und jetzt endlich erblickst du dein Ziel, hoch und rein und stolz am Ufer eines dunklen Binnenmeers. Wenn die Südmarksfeste schon etwas Anderweltliches hatte, scheint an dieser Festung kaum etwas von deiner Welt: eine Million Millionen Steine sind hier aufeinandergetürmt, Onyx auf Jaspis, Obsidian auf Schiefer, und obgleich diesen Türmen eine raffinierte Symmetrie innewohnt, ist es doch eine Art von Symmetrie, die Sterblichen auf den Magen schlägt.
    Du landest jetzt, steigst endlich vom Wind, um durch die labyrinthischen, oft engen Gänge zu eilen, wobei du dich aber an die breitesten und bestbeleuchteten hältst; Es ist nicht gut, unvorsichtig durch Qul-na-Qar zu wandern, dieses älteste aller Bauwerke (dessen Steine, wie es heißt, vor so vielen Ewigkeiten gebrochen wurden, daß die junge Erde noch warm war), und außerdem hast du nicht viel Zeit.
    Das Schattenvolk der Qar hat ein altes Sprichwort, das da, grob übersetzt, lautet: »Selbst das Buch der Trauer beginnt mit einem Wort.« Das heißt, daß auch die wichtigsten Dinge
einen
simplen Anfang haben, wenn man ihn manchmal auch erst viel, viel später benennen kann — einen ersten Schwertstreich, ein Saatkorn, ein nahezu lautloses Luftholen, ehe ein Lied ertönt. Deshalb hast du es jetzt so eilig: Die Abfolge von Geschehnissen, die schließlich nicht nur Südmark, sondern die gesamte Welt bis in die Grundfesten erschüttern wird, beginnt hier und jetzt, und du wirst Zeuge sein.
    In den Tiefen von Qul-na-Qar liegt eine Halle. Natürlich gibt es in Qul-na-Qar viele Hallen, so viele wie Zweige an einem alten, abgestorbenen Baum — ja, selbst in einem ganzen Garten solcher Bäume —, aber selbst jene, die Qul-na-Qar nur während des unruhigen Schlafs einer schlimmen Nacht geschaut haben, wüßten, welche Halle es ist. Sie ist dein Ziel. Komm weiter. Die Zeit wird knapp.
    Die Halle ist so groß, daß es eine Stunde dauern würde, sie zu durchmessen, oder jedenfalls wirkt es so. Erhellt ist sie von zahllosen Fackeln, aber auch von anderen, ungewöhnlicheren Lichtern, die wie Glühwürmchen unter dem dunklen, zum Abbild von Stechpalmen- und Schwarzdornästen geschnitzten Gebälk glimmen. An beiden Längswänden reihen sich Spiegel, jedes Oval so dick mit Staub bedeckt, daß man kaum damit rechnen würde, darin auch nur den schwächsten Widerschein der Funkellichter und Fackeln zu erblicken, aber noch erstaunlicher ist, daß in dem trüben Glas auch andere, dunklere Formen erkennbar sind. Diese Schemen sind auch dann da, wenn die Halle leer ist.
    Jetzt ist die Halle nicht leer, sondern voller Wesen, schöner und schauriger. Wenn du in diesem Moment über
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