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Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin

Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin

Titel: Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin
Autoren: Eric Walz
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Die Leinwand eines Glasmalers ist das Licht Gottes.«
    »Schön gesagt«, lobte Luis. »Aber wie üblich legst du zu viel Wert auf Poesie in deiner Analyse. Über allem steht das Wort, vergiss das bitte nicht. Die Sprache ist die höchste aller Künste, denn sie ist die wirkungsvollste, mächtigste, göttlichste Kraft.«
    Von einem berühmten Rhetoriker wie Luis war vermutlich nichts anderes zu erwarten.
    »Rührt das Wort ›Bildung‹ nicht daher«, fragte Sandro vorsichtig, »dass sich die Menschen ein Bild von etwas machen sollen, wenn sie lernen?«
    »Sehen ist das unterste Niveau des Lernens. Ein Säugling sieht die Welt, aber er versteht sie nicht. Erst die Sprache schlägt den göttlichen Funken, der uns die Welt begreifen lässt.«
    »Dafür erzeugen Musik und Malerei die größeren Gefühle, und Gefühle sind genauso wichtig wie das Wissen. Die Welt ist aus Liebe, Freundschaft, Mitleid, Trauer und Demut gebaut, nicht aus Worten.«
    »Kannst du dir den Sohn Gottes vorstellen, wie er die Bergpredigt mit der Leier in der Hand hält, die Saiten zupfend? Kannst du dir vorstellen, wie er, ans Kreuz genagelt, die sieben letzten Worte singt : Denn sie wissen nicht, was sie tun? Hat er die Wucherer mit Worten oder mit Bildern aus dem Tempel gejagt? Ist er durch das heilige Land gelaufen und hat Zeichnungen verteilt, oder hat er mit den Menschen gesprochen? Worte, Sandro, immer waren es Worte, die die Menschen berührten und ihre Herzen hochfliegen ließen. Siehst du, Sandro, Musik und Malerei sind menschlichen Ursprungs, nur die Sprache kommt von Gott.«
    Das war einer jener Momente, in denen Sandro Luis fürchtete. Im Handumdrehen hatte dieser Mann es geschafft, den schönsten Kunstwerken das Siegel der Belanglosigkeit aufzudrücken. Die Skulpturen von Michelangelo Buonarroti, die Malereien Giottos und Raffaels, die Choräle der Komponisten, die Fenster Antonia Benders – sie alle waren binnen weniger Augenblicke zu bloßem Zierrat verkommen, zu einem unliebsamen Geschenk, für das man sich höflich bedankt und es anschließend irgendwohin stellt, wo man es möglichst wenig beachten muss. Dass es Luis gelang, alles in den Staub zu reden, was er sich vorgenommen hatte, dass er Menschen überzeugen konnte, das war eine Fähigkeit, derentwegen der Papst ihn als seinen persönlichen Delegierten zum Konzil geschickt hatte. Und Sandro als sein Assistent unterstützte ihn. Dennoch überkam ihn – bei aller Bewunderung für Luis’ Talent – manchmal ein kalter Hauch, wenn er seinen Reden zuhörte. Denn diese Reden waren eigentlich Fallen.
    Da Sandro nichts mehr zu antworten wusste, senkte er ganz leicht den Kopf und gestand damit seine Niederlage ein – nicht die erste in all den Jahren. Dieses Senken des Kopfes und Luis’ anschließendes Berühren von Sandros Schulter – so als begnadige er ihn – waren zu einem Ritual geworden, zu einem Teil ihrer Sprache.
    Sie waren am Tor zum Castello, der Residenz, angelangt. Zwei Wachen, die dort postiert waren, machten keine Anstalten, sie zu kontrollieren oder zu befragen. Luis blieb unter dem Rundbogen stehen und sah Sandro erneut in die Augen.
    »Von hier an gehst du allein.«
    »Allein?«, echote Sandro. Was sollte er allein beim Fürstbischof?
    »Siehst du«, sagte Luis, »diesen Ausdruck in deinem Gesicht meinte ich vorhin. Und bitte, Sandro, ich flehe dich inständig an: Stottere nicht, wenn du dem Fürstbischof gegenübertrittst. Nichts wirkt unglaubwürdiger als Stottern.«
    »Aber was …«, rief Sandro. »Ich verstehe nicht.«
    Doch Luis hatte ihm bereits den Rücken zugewandt.
     
    Sandro lief ihm geradewegs in die Arme. Wie aus dem Nichts gekommen, irgendwo in den Fluren der Residenz, stand dieser Mann vor ihm, und sie sahen sich an wie Geister, wie Menschen aus einem anderen Leben. Ihre letzte Begegnung und die Umstände, wie sie endete, lagen so viele Jahre zurück wie eine Sage. So jedenfalls kam es Sandro vor.
    »Ma-Matthias«, flüsterte er.
    Matthias sagte nichts, aber auch ihm standen die Überraschung und der Schreck ins Gesicht geschrieben. Er trug einen schwarzen Rock mit schwarzem Umhang und schwarzen Schuhen. Nur die Kniestrümpfe waren weiß, und in der Hand hielt er einen Hut mit Feder, den er noch nicht wieder aufgesetzt hatte. Offensichtlich kam er gerade aus dem Empfangssaal des Fürstbischofs.
    Sie schwiegen. Was hätten sie sich sagen sollen? Jeder von beiden wusste, was er getan hatte und besser nicht getan hätte. Sie waren Feinde gewesen
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