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Die Glasblaeserin von Murano

Die Glasblaeserin von Murano

Titel: Die Glasblaeserin von Murano
Autoren: Marina Fiorato
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wurde Vivaldi von Musikern live gespielt, und noch dazu in ebenjener Kirche, für die er die Stücke komponiert und in der er sie mit seinen Waisenmädchen eingeübt hatte. Die Musiker heute waren lauter junge, überaus fähige Italiener, die mit technischem Können und großer Hingabe spielten. Sie versuchten nicht, die Touristen durch historische Kostüme zu beeindrucken, sondern ließen die Musik für sich selbst sprechen. Und hier hörte Nora die «Vier Jahreszeiten» zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich.
    Ihr war durchaus klar, dass sich die Kirche seit den Tagen Vivaldis verändert hatte. In ihrem kleinen Reiseführer hatte sie gelesen, dass die palladianische Fassade aus dem achtzehnten Jahrhundert stammte und nach dem Tod des Maestro hinzugefügt worden war. Dennoch hatte Nora das Gefühl, der Komponist sei anwesend. Sie warf einen prüfenden Blick in die Schatten hinter den Säulen, wo interessierte Einheimische standen und der Musik lauschten, so als erwartete sie, jeden Augenblick seinen roten Schopf zwischen ihnen aufleuchten zu sehen.
    Bei ihrer Ankunft in Venedig hatte sich Nora wie losgelöst gefühlt, als treibe sie haltlos und ohne bestimmtes Ziel im unablässigen Strom der Touristen dahin. Die Menschenmenge umspülte sie, unzählige verschiedene Sprachen drangen an ihr Ohr. Sie geriet in einen Strudel aus kehligen deutschen Lauten oder den schnellen französischen einer großen Gruppe Jugendlicher. Wie betäubt ließ sie sich danach durch San Marco schieben, bis sie sich schließlich vor der berühmten Vorderfront der Biblioteca Marciano wiederfand. Nora stolperte   durch das Portal wie eine Verletzte auf der Suche nach Hilfe, traf aber nur auf neugierige Touristen, die sich in Massen durch die historischen Gebäude schoben. Wie gerne wäre Nora jetzt allein hier gewesen. Die Stadt mit ihrer unermesslichen Schönheit erschien ihr wie ein Werk Gottes und versetzte ihr einen fast schon körperlich spürbaren Schock. Nora verließ der Mut. Sie brauchte einen Anker, etwas, woran sie sich festhalten konnte, um sich hier zu Hause fühlen zu können. Sie entschloss sich, in der Bibliothek nach Informationen über Corradino zu suchen. In diesem Koordinatensystem von klaren, greifbaren Worten, von Daten und Fakten konnte sie sicher einen festen Halt finden. Corradino würde auf sie warten wie ein Verwandter, der einen am Flughafen abholt. Ich werde dir Venedig zeigen, würde er zu ihr sagen. Du gehörst hierher, du gehörst zu unserer Familie.
    Der Portier ihres Hotels, ein freundlicher, verständnisvoller Mann, hatte gleich gemerkt, was mit ihr los war. Zu oft schon hatte er gesehen, welche Wirkung seine Stadt auf Fremde ausübte. Er war es, der ihr den Tipp gab, sich in der Biblioteca nach den Spuren ihres Vorfahren umzusehen, und als sie fragte, wo Corradinos Arbeiten ausgestellt seien, antwortete er sofort: «Fast überall.» Nora freute sich, dass dem Portier der Name Corradino Manin so vertraut war; er sprach von ihm wie von einem guten Bekannten. Als sie ihn fragte, welche anderen Ziele sie in der Stadt ansteuern sollte, antwortete er mit einer ausladenden Handbewegung. «Soltanto fare una passeggiata, Signorina. Soltanto passeggiata.» Machen Sie einfach einen Spaziergang, einfach spazieren gehen.
    Natürlich hatte er recht. Von ihrem gemütlichen Hotel in Castello aus war sie durch die Calli gewandert, wobei sie jeden Sinn für Zeit und Richtung verloren hatte.   Doch das kümmerte sie nicht im Geringsten. Alles war so schön, selbst die verfallenen und vermodernden Häuser zwischen den vornehmen Palästen, deren untere Stockwerke langsam von der Lagune bei lebendigem Leibe aufgefressen wurden. Ihr fleckiges Mauerwerk bröckelte in den Kanal wie in Marsala getunkte biscotti, doch das erhöhte ihren Charme nur. Es schien, als gäben sich die alten Häuser bereitwillig der Kraft der Gezeiten hin und vollzögen so eine innig ersehnte Vereinigung.
    Nora schlenderte über die Brücken, gleichermaßen hingerissen von den Leinen mit bunter Wäsche, die von Fenster zu Fenster über den schmalen Kanal gespannt waren, als auch von den schwarzäugigen, schmutzigen Jungen, die auf einem verlassenen Platz Fußball spielten, und von den verschnörkelten Fensterbögen maurischen Einflusses.
    Sie widerstand der Versuchung, sich auf ihrem Weg ein festes Ziel zu setzen. In London hatte sie ein vollkommen durchorganisiertes Leben geführt, ausgerichtet an Wegweisern und Fahrplänen. Seit vielen Jahren hatte sie
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