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Die Geliebte des Trompeters

Titel: Die Geliebte des Trompeters
Autoren: Gabriela Jaskulla
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die er sorgenvoll gedacht hatte? – Gibt vielleicht gar nicht viel zu tun!, sagte Dick lachend: Keiner zu Hause!
    Aber dann sahen sie sie doch, die Verlierer, die Feinde. Es war am Rande einer kleinen Siedlung. Sie verließen gerade im Schritt-Tempo den Bahnhof, da, wo sich mehrere Gleisstränge auf komplizierte Weise verzweigten, um dann für eine Weile parallel zueinander weiterzulaufen. Der Junge wischte gerade mit dem Jackenärmel über die Scheibe des Abteilfensters, da entdeckte er sie: eine kleine Gruppe verhüllter Gestalten, die rasch einen kleinen Hügel herabstiegen, mehr rutschten als kletterten, unsicher, eilig, wobei sich mehrere von ihnen umwandten und den anderen winkten. Einige hatten Säcke dabei, andere trugen etwas in ihren Taschen, unter den Mänteln und Umhängen, sorgsam, als würden sie kleine Kinder mit ihren Körpern schützen, vor dem Wind, vor dem Schnee, der über die Gleise blies. Die Gestalten sprangen, krümmten sich, rannten, schleppten und wuchteten schwere Lasten. Der kleine Hügel war ein Kohlehaufen, der auf dem Wagen eines Güterzugs aufgetürmt war, und die ameisenhaft wimmelnden Gestalten, diese Schwarzgekleideten ohne Gesichter, die rafften, sammelten, bargen, stolperten, flohen – das waren die Deutschen. Die Nazis. Das gefährlichste Volk der Welt. Einige hasteten zwischen den Gleisen davon, andere verkrochen sich, wie es schien, unter den abgestellten Waggons.
    Ein Sergeant war zu ihnen ins Abteil gekommen:
Kohlen klauen!,
erklärte er. Das ist ihre liebste Beschäftigung, wenn sie nicht gerade auf
Hamstertour
sind.
    Kohlen klauen? Warum klauten die Deutschen und kauften |23| sich keine Kohle? Und was hatte es mit der Hamstertour auf sich? Dick, der eine schnelle Auffassungsgabe hatte, merkte sich die beiden Wörter sofort: Kohlenklau. Hamstertour. Das waren ihre ersten beiden deutschen Vokabeln. Auch der Junge vergaß sie nicht mehr, dabei hatte er gar kein Talent für Fremdsprachen. Und auch keins zum Reden.
    Sonst machte sich Dick, der geschmeidige, immer wieder lustig über seine Wortkargheit, seine Unbeholfenheit, seinen Ernst. Aber jetzt, nachdem sie zwanzig, dreißig Mal die neuen Wörter geübt hatten, schwiegen sie gemeinsam. Sie schauten auch nicht mehr hinaus. Sie wussten ohnehin nicht, wo sie waren. Sie waren – Verlorene. Ausgesetzt in einem fremden Land. Selbst Dick spürte das.
    Irgendwann stand der Junge auf, griff in das Gepäckfach über ihnen und holte einen langen, schwarzen Lederkoffer hervor. Er setzte sich wieder, legte sich den Koffer auf den Schoß und öffnete ihn. Mit der Linken griff er, ohne hinzuschauen, in das blausamtene Futteral, in dem seine Trompete lag, und berührte sie sorgfältig: Das Mundstück, den Hals, die Ventile. Er hatte nicht vor zu spielen. Es reichte ihm, sie zu berühren. Ihre Glätte, ihre Kühle, die stille Kompaktheit des Instruments gaben ihm Ruhe und sogar so etwas wie Zuversicht. Dick lächelte. Was ließen sie sich so ins Bockshorn jagen! Aber er sagte nichts.
     
    Renate hatte die Nase im Dreck. In einem schmutzigen, schmierigen Eisbrei. Ihr würde das Gesicht festfrieren, gleich hier, auf den Schwellen eines stillgelegten Gleises am Stadtrand, wo sie mit anderen Verlorenen Kohlen klaubte. Bis, ja, bis die Militärpolizei auftauchte und man nicht wusste, wie ernst sie es heute meinten mit der Wachsamkeit. Das Gesicht würde ihr einfrieren, und an Vaseline war nicht zu denken. Sie dachte daran, wie liebevoll und resolut die Mutter die |24| Lippen des Vaters früher damit eingerieben hatte, bevor er losmarschierte, die Trompete unterm Arm, zum großen Umzug des Spielmannszugs. Das war
vorher
gewesen
.
    Dann war es schwierig geworden bei ihnen zu Hause, der Kohlehandel des Vaters florierte nicht recht, und aus der Vaseline wurde Schweineschmalz und aus dem Schweineschmalz etwas Geronnenes, Bräunliches, das auf dem tupfenden und reibenden Zeigefinger der Mutter Spuren wie von Rost hinterließ. Dann gab es nicht mehr genug Männer für den Spielmannszug. Dann zogen sie den Vater ein. Und als er zurückkam, war die Trompete nicht mehr da. Verkauft, versetzt, Irmgard wusste kaum noch, wofür, und regte sich auf, weil der Vater es unbedingt wissen wollte. Rosinen, Kartoffeln, Mehl – was weiß ich, ist doch auch egal! Aber dem Vater war es nicht egal, überhaupt nicht, und das Schweigen zwischen Irmgard und ihm wurde so feindselig, dass selbst die Untermieter schlichen, als könnten sie jederzeit bei etwas Verbotenem
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