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Die Geliebte des Trompeters

Titel: Die Geliebte des Trompeters
Autoren: Gabriela Jaskulla
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dann hob sich der Dunst, und was sie sahen, war so ungeheuerlich, dass sie alle instinktiv aufsprangen und sich an die Fenster drängten: |27| Das hier war keine Stadt, das war eine Ruinenlandschaft. Ein unüberschaubares Meer von eingestürzten Fassaden, verkohlten Mauerresten, Skeletten von Dachstühlen, Bergen von Schutt. Am Teltowkanal wunderten sie sich zunächst über die endlosen, sinnlos verbogenen Zäune – aber es waren keine Zäune, es waren vielmehr Bahngleise, die von der Wucht der Detonationen aus dem Gleisbett gerissen worden waren. Eine Landschaft der Zerstörung, die kein Ende nahm, die nie ein Ende nehmen würde, in der Menschen unmöglich existieren konnten. Waren wir das?, fragte der Junge ängstlich und sein Freund schüttelte den Kopf. Nicht wir – die Russen, behauptete er. Es sollte beruhigend klingen.
    Danach standen sie stumm, bis zum Einlaufen im Bahnhof. Plötzlich Geschäftigkeit, Ordnung vor imposanten Gebäuden. In Zehlendorf und Dahlem war vieles heil geblieben, sogar Bäume hatten Bombenangriffe, Artilleriebeschuss und den dramatischen Brennstoffmangel fürs Erste überlebt. Hier waren die wohlhabenden Berliner zu Hause. Oder zu Hause gewesen.
    Ein Sergeant wies auf ein paar umliegende Villen: Das da, das da und dies – alles unsers. Und, als er den Blick des Jungen sah: Nazis. Alles alte Nazis. Vorher haben sie die Juden rausgeschmissen, jetzt sind sie selbst an der Reihe. So ist das! Außerdem: Sicherheitsgründe. Können die Typen nicht so dicht an uns ranlassen! Für einen Unteroffizier redete der Mann ziemlich viel – das gab ihm Gelegenheit, diesen außerordentlich jungen Rekruten genauer unter die Lupe zu nehmen. Er sah aus wie ein Mädchen, fand der Sergeant, wie ein schönes, etwas verdorbenes Ding aus dem Mittelwesten.
    Abends befahl er den Jungen zu sich. Siebzehn! Jesus! Das war nicht das richtige Alter für eine so komplizierte Stadt wie Berlin mit seinem Viermächtestatus. Und er hatte keine Zeit, den Babysitter zu spielen. Also: Schreibstube sei das äußerste … |28| Da sei er wenigstens im Trockenen. Und vernünftige Leute hätten ein Auge auf ihn. Aber er stellte es dem Jungen frei zu gehen. Nach Hause. Zurück zu Daddy. Na, was ist?
    Der Junge, der alles scheinbar teilnahmslos angehört hatte, wurde plötzlich lebendig. Er wehrte sich. Er wisse, was er tue. Er wolle bleiben. Und wenn nur die Schreibstube möglich sei, dann bitte! Dann eben Schreibstube. Tatsächlich: schnippisch wie ein Mädchen!, dachte der Sergeant. Und vermutlich ebenso empfindlich. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Wie der Junge schon dastand – die eine Hüfte ein bisschen nach vorn geschoben, als wollte er tanzen. Plötzlich spürte der Sergeant in sich eine Wut. Na, dem würden ein paar Extra-Übungen guttun, die ganze Haltung des Jungen passte ihm nicht, dieses unausgesprochene Du-kannst-mich-mal. Und dann fiel ihm ein, dass die Nazis gegen Ende des Krieges nicht davor zurückgeschreckt waren, Vierzehn-, Fünfzehnjährige an die Front zu schicken. Als er das erfahren hatte, hatte es eine besondere Art von Ekel in ihm ausgelöst. Man hatte die vordringenden Alliierten gezwungen, auf Kinder zu schießen, die noch jünger als dieses Jüngelchen waren   … Was für eine widerliche Welt! Resigniert winkte er dem Jungen, zu gehen. Der grüßte ordnungsgemäß und verschwand.
     
    Am nächsten Tag für die Neuen ein erster Rundgang. Der amerikanische Stützpunkt – eine Oase. Mit eigenen Geschäften, Kapellen, Tankstellen. Eine Insel innerhalb der Insel Berlin, die von den sowjetischen Besatzern umschlossen war. War es überhaupt die Wirklichkeit, was sie gestern gesehen hatten? Diese halb verhungerten schwarzen Gespenster, die beim ersten Geräusch geflohen waren, als sei der Teufel selbst hinter ihnen her? War das die Wirklichkeit gewesen, diese zerstörten Straßenzüge, die hoffnungslos abgeholzten Parks und dieses Schweigen auf den verschneiten Plätzen? Oder |29| war nicht vielmehr dies hier die Wirklichkeit: Die warmen und trockenen Behausungen einer Armee voller Stärke und Selbstbewusstsein? Die Shops und die Sportanlagen der
good guys
, die die Unschuldigen beschützten und die Schurken bestraften? Die alles im Griff hatten?
    Der Junge konnte sich keinen Reim auf die Eindrücke machen. Es passte alles nicht zusammen. Er dachte an die Broschüre, die man ihnen gestern in die Hand gedrückt hatte:
Pocket Guide To Germany
. Er hatte sie durchgelesen, obwohl Lesen sonst nicht seine
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