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Die Geliebte des Prinzen

Die Geliebte des Prinzen

Titel: Die Geliebte des Prinzen
Autoren: Jennie Lucas
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Tagen und Nächten in dem stickigen Dritte-Klasse-Abteil, in dem es nach altem Rauch und abgestandenem Schweiß roch, hatte Grace plötzlich Heißhunger auf Orangen.
    Sie zog ihren Wintermantel über ihre alten Jeans und den Wollpullover, krabbelte aus ihrer Koje und verließ den Zug. Draußen tauschte sie ein paar russische Münzen gegen eine der begehrten Früchte ein, riss die Schale herunter und grub die Zähne in das saftige Fruchtfleisch. Es war köstlich. Einfach himmlisch.
    Doch nach wenigen Bissen schmeckte die Orange plötzlich fade. Verloren blickte Grace auf die schneebedeckte Weite des riesigen Sees und sehnte sich nach sehr viel mehr.
    Nach ihrem Ehemann.
    Es zerriss ihr das Herz, wenn sie daran dachte, wie sie sich bei Nacht und Nebel davongestohlen hatte. Welche Lüge sie ihm aufgetischt hatte.
    Obwohl sie sich immer wieder einredete, dass es richtig gewesen war, ihre Schwangerschaft zu verleugnen. Maxim wollte kein Ehemann und Vater sein. Sie konnte ihn nicht für immer von seiner Geliebten fernhalten. Ich will doch nur, dass er glücklich ist, dachte sie verzweifelt. Und unser Kind auch …
    Doch in diesem Moment vermisste sie Maxim so schmerzlich, dass sie kaum glauben konnte, dass sie zu einem solchen Opfer bereit gewesen war. Sie sehnte sich nach seiner Umarmung, seinem Lächeln, sogar nach seinem düster misstrauischen Blick. Alles hätte sie in Kauf genommen, nur um bei ihm zu sein.
    Am Abend des Empfangs hatte sie sich aus dem Haus geschlichen und den Ehering ihrer Mutter in einem Pfandhaus in der Nähe des Bahnhofs versetzt, doch jeder Tag ihrer Reise war ein Tag voller Tränen. Keine Minute verging, ohne dass sie an Maxim in den Armen einer anderen Frau dachte, an den versetzten Ring ihrer Mutter, an ihr ungeborenes Kind, das ohne Vater aufwachsen würde …
    Die mütterliche russische Zugbegleiterin, die Graces Abteil betreute, war so rührend um sie besorgt, dass sie ihr Extraportionen Fisch und Borscht aus dem Speisewagen der ersten Klasse zukommen ließ. Solidarität unter Frauen, die wussten, was Liebeskummer bedeutet.
    Grace fragte sich allmählich, ob jeder Mensch auf der Welt insgeheim unter einem gebrochenen Herzen litt.
    Halb blind vor Tränen, ließ sie den Blick über den zugefrorenen See schweifen, diese endlose, einsame, schneebedeckte Weite. Aus der Ferne näherte sich ein schwarzer Lastwagen, doch er verschwamm vor ihren Augen.
    Sie hasste sich für das, was sie getan hatte. Für diese ungeheure Lüge. Doch es war die einzige Möglichkeit gewesen, Maxim die Freiheit zu schenken. Hätte er gewusst, dass ihr Kind existiert, dass es in Graces Bauch wuchs und gedieh, dann hätte er sie bis ans Ende der Welt verfolgt. Und wäre niemals frei gewesen.
    Auch sie war jetzt frei, aber diese Freiheit erschien ihr wie ein Todesurteil. In einigen Tagen würde sie Wladiwostock erreichen und von dort eine billige Schiffspassage über den Pazifischen Ozean zu ergattern versuchen. Dann würde sie irgendeinen Job annehmen und ihr Kind im milden Kalifornien großziehen.
    Doch die Aussicht auf ihre sonnige Heimat kam ihr so trostlos vor wie ein grauer Regentag.
    Seufzend wischte sie sich die Tränen aus den Augen. An der anderen Seite des Bahnsteigs wirbelten Schnee und Eis auf, als der schwarze Lastwagen zum Stehen kam.
    Ein Mann sprang heraus und lief auf sie zu.
    Wie eine mystische Gestalt aus einer Heldensage trat der dunkle Prinz im wehenden schwarzen Mantel aus dem weißen Dunst heraus.
    Grace ließ vor Schreck die Orange fallen.
    „Maxim …?“, flüsterte sie.
    Er nahm sie in die Arme und küsste sie fest auf die Lippen.
    „Grace, oh, Grace!“, sagte er heiser. „Dem Himmel sei Dank. Ich dachte schon, ich würde dich nie finden.“
    „Aber was machst du denn hier, in Sibirien?“ Sie glaubte zu träumen. Zaghaft legte sie eine Hand an seine raue, von Bartstoppeln bedeckte Wange. Sie hatte ihn noch nie so ungepflegt und zerzaust gesehen. „Du hast dich nicht rasiert …“
    „Dieser Zug war meine letzte Hoffnung. Ich habe seit vier Tagen nicht geschlafen. Aber jetzt habe ich dich endlich aufgespürt.“ Sie glaubte, ein vielsagendes Glitzern in seinen Augen zu sehen, als er zärtlich ihre Wange streichelte. „Euch beide.“
    Sie hielt den Atem an. Er wusste es …
    Verzweifelt setzte sie zu einer erneuten Lüge an, brachte es aber nicht fertig, dem Mann, den sie liebte, ins Gesicht zu lügen.
    „Es tut mir leid“, schluchzte sie und schmiegte ihr tränennasses Gesicht an seine
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