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Die Geliebte des Normannen

Die Geliebte des Normannen

Titel: Die Geliebte des Normannen
Autoren: Brenda Joyce
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bewegen, konnte nicht atmen. Sein Vater hatte ihm nicht die Wahrheit gesagt! Er wurde nur bei Hofe erzogen, um als Geisel zu dienen, und das war nun wirklich keine große Ehre!
    Er öffnete die Augen und ballte die Fäuste. Sein Zorn drohte ihn zu überwältigen. Wie er den König dafür hasste, dass er ihn von zu Hause fortgeholt hatte, dass er seinen Vater gezwungen hatte, ihn wegzugeben! Seinen Vater – den er liebte – und der ihn ebenfalls belogen hatte! Sein Ärger verzehrte ihn. Jetzt verstand er die Tränen seiner Mutter. Jetzt verstand er alles.
    »Tut mir leid«, sagte Henry ernst.
    Stephen musterte ihn argwöhnisch, dann schluckte er seinen Ärger hinunter und zwang sich zu einem Lächeln.
    »Es ist besser, wenn du es weißt«, meinte Henry achselzuckend. »Was willst du jetzt tun?«
    »Das ändert nichts«, erklärte Stephen in einem Ton, der nicht der eines sechsjährigen Jungen war, sondern der eines Mannes. »Ich tue meine Pflicht.«
    Doch in diesem Augenblick hatte sich alles verändert, für immer.

1
    Unweit von Carlisle, 1093
    Ein Stelldichein mit dem Geliebten. Mary lächelte verstohlen und beeilte sich, die Burg unbemerkt hinter sich zu lassen. Sie war auf dem Weg zu ihrem ersten Rendezvous und richtig aufgeregt.
    Sie hatte sich verkleidet. Statt ihrer Tunika mit den langen, edelsteinbesetzten Ärmeln trug sie das grobe Wollhemd einer Bäuerin, ihren goldenen Gürtel hatte sie gegen ein geflochtenes Lederband ausgetauscht und die spitzen Seidenschuhe gegen Holzpantoffeln. Sie war sogar so umsichtig gewesen, sich von einer Magd ein Paar dicke Wollsocken auszuleihen und das blonde Haar mit einem alten Leinenschleier zu verhüllen. Obwohl sie mit ihrem Geliebten verlobt war, kam für eine Lady – erst recht für sie – nur ein heimliches Treffen infrage, und sie war entschlossen, sich nicht erwischen zu lassen.
    Marys Lächeln wurde noch breiter. Sie stellte sich vor, wie ihr schöner Lord sie zu ihrem allerersten Kuss in die Arme nahm. Natürlich war ihre Heirat aus politischen Gründen arrangiert worden, und sie wusste nur zu gut, welches Glück es war, dass sie sich in Doug Mackinnon verliebt hatte, einen jungen Mann, mit dem sie schon seit ihrer Kindheit befreundet war.
    Plötzlich vernahm sie Stimmen. Mary verlangsamte ihren Schritt; im ersten Moment dachte sie, Doug sei in Begleitung, doch dann merkte sie, dass es weder Gälisch noch Englisch war, was sie hörte. Mit einem angstvollen Laut versteckte sie sich hinter einer großen Eiche im Gras und lugte hinter dem Stamm hervor. Was sie sah, ließ sie vor Furcht erstarren.
    Auf der kleinen Lichtung vor ihr befanden sich normannische Soldaten.
    Mary duckte sich unwillkürlich noch tiefer, ihr Herz hämmerte gegen den Brustkorb. Jeglicher Gedanke an ihr Rendezvous mit Doug war verflogen. Wäre sie nur einen Schritt weiter aus dem Wald in die sonnenbeschienene Lichtung hinausgetreten, sie wäre geradewegs ins Lager dieser Soldaten gelaufen.
    Sie wagte nicht, sich zu bewegen.
    Ihr Vater hatte sie oft damit gehänselt, dass sie für ein Mädchen viel zu schlau sei, und ihr fielen alle möglichen Dinge auf. Warum waren die normannischen Soldaten hier, auf schottischem Boden?
    Wussten sie von der Heirat der Liddel-Erbin, die morgen stattfinden sollte?
    Liddel war ein wichtiger Außenposten für ihren Vater Malcolm, der für Schottland Carlisle und diesen Teil der Grenze gegen die marodierenden, verräterischen Normannen verteidigte. In den letzten beiden Jahren, seit Malcolm dem normannischen König Rufus dem Roten in Abernathy erneut die Treue geschworen hatte, hatte ein brüchiger Friede geherrscht. Wussten die Normannen, dass Liddel so sehr mit den Vorbereitungen zu den Hochzeitsfeierlichkeiten beschäftigt sein würde, dass sie es sich erlauben konnten, direkt unterhalb der Burg zu lagern und zu spionieren – oder gar noch Schlimmeres?
    Wut erfasste Mary. Diese Soldaten führten nichts Gutes im Schilde; sie musste Malcolm sofort mitteilen, dass sie hier waren.
    Vom Kauern hinter dem Baum begannen ihre Knie zu schmerzen. Sie richtete sich ein wenig auf, um noch einmal einen Blick auf die Normannen zu wagen. Die Soldaten schlugen ihr Lager auf, obwohl die Dunkelheit erst in einigen Stunden hereinbrechen würde. Doch als sie die Männer genau betrachtete, wurde ihr sofort klar, weshalb sie dies ta ten. Mary machte große Augen – einer der Normannen war verwundet.
    Zwei Ritter halfen einem riesigen Mann, von seinem Streitross abzusteigen; er
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