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Die geheime Stunde

Die geheime Stunde

Titel: Die geheime Stunde
Autoren: Luanne Rice
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Vollmond gewesen. Es war Juli, und die Sonnenbräune ihrer Mutter hatte bei jedem Licht einen seidigen Schimmer – auch bei Mondlicht. Ihre Haare, von der Sonne ausgebleicht, waren bestimmt zerzaust gewesen von der Fahrt bei offenem Fenster. Ihr Lippenstift war pinkfarben und frisch aufgetragen – sie hatte gehört, wie Dad es Gramps erzählte, seinem Vater.
    Maggie vergaß bisweilen, was sie selbst erlebt und was man ihr erzählt hatte. Vieles
wusste
sie einfach von ihren Eltern – tief in ihrem Innern verborgen, genau wie sie wusste, wie man atmet, wie man sich an jeden Tag erinnert, wie man geht und wie man Fahrrad fährt. Aber ein Teil dieser Geschichte stammte von ihrem Vater und dem lange währenden Bemühen, einen Sinn in der Tatsache zu finden, dass ihre Mutter nicht mehr da war.
    Nirgendwo mehr war.
    Der Teil von dem Sanitäter beispielsweise, der gemeint hatte, mit ihr sei alles in Ordnung. Sie hatten sie an Ort und Stelle untersucht. Sie konnten keine äußeren Verletzungen feststellen, und nachdem sie ihren Blutdruck gemessen und ihr Herz abgehorcht hatten, waren sie der Meinung gewesen, alles sei in Ordnung, hatten ihr aber geraten, sich ruhig zu verhalten. Die Ambulanz sei unterwegs. Im Krankenhaus würden die Ärzte sie gründlich untersuchen.
    Ihre Mutter hatte gelacht. (War das Teil von Erzähltem oder etwas, was Maggie insgeheim wusste? Es war so lebendig in ihrem Kopf, das Bild von den blauen Augen ihrer Mutter, groß und belustigt, die Kehle von dem leisen Gelächter vibrierend.) »Mir geht es gut. Aber was ist mit der Hirschkuh?«, hatte sie gefragt, während die Heiterkeit einer leisen Besorgnis wich. »Sollten wir nicht besser einen Tierarzt rufen, damit er sie von ihren Leiden erlöst?« Sie war aufgestanden, um nachzuschauen, ob das Tier – eine Virginiahirschkuh – Schmerzen litt.
    Und dann hatte sie sich wieder hingesetzt. Einfach so: Ein Seufzer und sie war zu Boden gesunken, hatte sich gegen einen Baum gelehnt, als sei sie mit einem Mal erschöpft. Als sei ihr das alles – so spät am Abend noch unterwegs zu sein, zu spät, um Maggie ins Bett zu bringen und ihr einen Gutenachtkuss zu geben, im Mondlicht nach Hause zu fahren, mit der weißen Hirschkuh zusammenzuprallen und die Wellen so laut gegen die Felsen branden zu hören wie das Rauschen ihres eigenen Blutes in den Ohren – plötzlich zu viel.
    Während Maggie an ihre Mutter dachte, sah sie, wie ihr Vater den Kopf neigte, damit der Sanitäter die Platzwunde besser in Augenschein nehmen konnte. Die anderen Polizisten redeten die ganze Zeit. »Auge um Auge«, sagte der eine gerade. »Sieben Mädchen unter der Erde, ein Stein durch die Fensterscheibe, jetzt dürfen Sie mal rechnen!«
    »Ich habe zwei Kinder!«, protestierte ihr Vater. »Hüten Sie Ihre Zunge.«
    »Sieben Mädchen«, wiederholte der Polizist; er hielt eine große Plastiktüte mit dem Ziegelstein in der Hand, die, wie Maggie wusste, eigens der Sicherung von Beweismitteln diente.
    »Er hat eine Platzwunde«, war plötzlich eine Frau zu vernehmen. »Es wäre besser, wenn Sie die versorgen und Ihre Einstellung so lange vergessen würden.« Ihre Stimme, die einen scharfen Unterton und einen fremden Akzent hatte, bewirkte, dass Maggie aufblickte. Aus irgendeinem Grund hatte sie die Frau vorher nicht bemerkt. Sie hatte an der Tür gestanden, trug einen dunkelgrauen Mantel und hatte glatte braune, schulterlange Haare; nun eilte sie zu Maggies Vater hinüber, als wollte sie ihn schützen. War sie Polizistin? Oder ebenfalls Anwältin? Sie war sehr hübsch, und unauffällig zugleich.
    »Wer sind Sie?«, fragte der Polizist, der den Einsatz leitete.
    »Sie kommt von der Arbeitsvermittlungsagentur«, erwiderte Maggies Vater und betastete seine Schläfe, die nicht länger blutete, vorsichtig mit zwei Fingern. »Sie kam unmittelbar nach dem Vorfall, hat aber niemanden gesehen.«
    »Stimmt.« Die Stimme der Frau klang gereizt, als missfalle ihr, wie gemein die Polizisten Maggies Vater behandelten. »Ich habe keine Menschenseele gesehen.«
    »So ein Pech«, erwiderte der Polizist, aber Maggie kümmerte sich nicht mehr um seinen Sarkasmus oder die Gemeinheiten gegenüber ihrem Vater. Die Frau zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie betrachtete Maggies Vater mit einer Mischung aus Unbehagen und schierer Besorgnis. Maggie hatte sie wohl derart eindringlich angestarrt, dass die Frau es spürte. Denn plötzlich hob sie die Augen, ließ sie durch den Raum schweifen, erwiderte
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