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Die geheime Stunde

Die geheime Stunde

Titel: Die geheime Stunde
Autoren: Luanne Rice
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egal, was man von Merrill halten mag. Was mich angeht, ich würde ihm die Spritze höchstpersönlich verabreichen, wenn sie mich ließen. Was er getan hat … aber Schwamm drüber. John ist hier geboren und aufgewachsen. Ich kenne ihn von Kindesbeinen an – er ist in die Fußstapfen seines Vaters getreten und ein erstklassiger Anwalt geworden. Er tut, was er für richtig hält – lassen Sie sich dadurch nicht in Ihrer Entscheidung beeinflussen, ob Sie die Stellung annehmen oder nicht. Übrigens, ich bin Ethel Wilcox.«
    »Kate Harris.« Sie schüttelte die ausgestreckt Hand, erstaunt über den festen Griff. Die Frau war mit Sicherheit über siebzig und gekleidet, als hätte sie fünfzig Jahre ihres Lebens als Hausfrau und Mutter in der Vorstadt verbracht: marineblaue lange Hosen, marineblaue Strickjacke, schmale goldene Uhr, brandneue Reebok-Laufschuhe, kurz geschnittenes graues Haar.
    »Sie machen den Eindruck, als wären Sie eine ernsthafte Person«, sagte Ethel, während sie Kate eindringlich musterte. »Und ich hoffe, dass ich mich nicht in Ihnen täusche. Ich könnte es nicht ertragen, mit ansehen zu müssen, dass diese Leute schon wieder im Stich gelassen werden.«
    »Im Stich gelassen?«
    »Von jemandem, der nicht die Absicht hat, länger zu bleiben.«
    Kate holte tief Luft. Sie befand sich auf einem schwierigen Terrain. Von einer neugierigen, wenn auch wohlmeinenden Nachbarin auf Herz und Nieren geprüft zu werden hatte nicht auf ihrem Plan für den heutigen Morgen gestanden. Doch Ethel Wilcox blickte sie so durchdringend an, als könne sie Gedanken lesen, als habe sie Bilanz gezogen und befunden, dass sie ganz und gar nicht die Richtige für die Familie O’Rourke war, und so richtete Kate sich kerzengerade auf und gab den Blick unverblümt und ohne mit der Wimper zu zucken zurück.
    »Ich hatte vor zu bleiben«, erwiderte sie nicht ganz wahrheitsgemäß.
    »Gut.« Mrs. Wilcox’ Lippen zuckten, verzogen sich zu einem Lächeln, das immer breiter wurde. Kate hatte ein flaues Gefühl im Magen, aber sie nickte, als würde sie damit ein geheimes Bündnis mit der Nachbarin besiegeln.
    »Dann werde ich mich jetzt mal darum kümmern, dass die Kinder pünktlich zur Schule kommen«, sagte Kate.
    »Brauchen Sie Hilfe? Ich bin sicher, John würde nicht erwarten, dass Sie beim ersten Mal alles im Alleingang bewältigen, und da er nicht zu Hause ist …«
    »Ich komme gewiss allein zurecht.« Kate lächelte und setzte eine Miene auf, die – wie sie hoffte – ungezwungen und überzeugend war.
    Mrs. Wilcox spähte durch die Eingangstür, sah die beiden Kinder in ihren Büchertaschen kramen. »Na ja, wenn ich nicht vorgehabt hätte, nach Newport zu fahren, würde ich in jedem Fall bleiben und Ihnen zur Hand gehen. Aber wenn Sie sicher sind …« Die Polizisten hatten ihre Arbeit im Haus beendet und traten auf die Veranda hinaus. Sie hatten noch ein paar Fragen an Mrs. Wilcox; die warf einen Blick auf ihre goldene Uhr und meinte, es bliebe noch eine Viertelstunde Zeit, bis ihre Freundin sie abholen komme.
    Kate nickte ihr zum Abschied zu und ging langsam zum Haus. Sie legte die Hand auf den Türknauf.
    Sie stand an der Schwelle, nicht nur des Hauses, sondern von etwas mehr: an einem Wendepunkt ihres Lebens. Die Stimmen der Kinder, die sich zankten, drangen durch das Fliegengitter. Die Diele lag im Schatten, dunkel, von Geheimnissen und einem merkwürdigen Hoffnungsschimmer erfüllt. Als sie den Kopf umwandte, fiel ihr Blick auf den blauen Himmel, die hohen Wolken, ihren Wagen, die Straße. Sie konnte jederzeit einsteigen und wegfahren, bevor es zu spät war und die Dinge ihren Lauf nahmen.
    »Kate?«
    Sie zuckte zusammen, drehte sich wieder um und spähte ins Haus. Die Kinder standen da, ihre Büchertaschen in der Hand, und beobachteten sie. Der Hund wedelte mit dem Schwanz. Ihr Herz fühlte sich an wie ein kleiner Vogel, der in ihrer Brust gefangen war und zu entfliehen suchte. Sie spürte, wie es gegen ihre Rippen, ihre Schlüsselbeine, ihre Kehle hämmerte.
    »Kate?«, rief Maggie abermals. »Wollen Sie nicht hereinkommen?«
    Kate blickte auf ihre Füße hinunter. Die Zehen in ihren schwarzen Mokassins berührten die Schwelle. Sie musste sie nur überschreiten. Der große goldfarbene Hund wartete drinnen, mit hängender Zunge, und es sah aus, als ob er über das ganze Gesicht lachte. Kate sah Maggie in die Augen, lächelte und drehte den Türknauf.
    »Ich komme schon«, erwiderte sie und betrat das
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