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Die geheime Stunde

Die geheime Stunde

Titel: Die geheime Stunde
Autoren: Luanne Rice
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In der Zeit, als seine Mutter noch lebte. Auf dem Fußballplatz hatte er sich raubeinig gegeben, hatte die ganze Zeit Angst gehabt, das Spiel zu verpatzen. Doch danach, wenn er in ihren Wagen gestiegen war, hatte sie ihn überzeugen können, dass er der beste Spieler auf dem Platz gewesen war.
    »Brainer hätte verletzt werden können«, sagte Maggie betrübt und kraulte den Retriever hinter den Ohren. »Denken die Leute, die mit Ziegelsteinen werfen, nicht an so etwas?«
    »Nein, offenbar nicht.«
    »Aber warum? Ich begreife es nicht. Sie hassen Greg Merrill, weil er die Mädchen umgebracht hat, aber sie selber werfen Steine durch unsere Fensterscheibe und scheren sich keinen Deut darum, dass Brainer verletzt werden könnte.«
    Oder wir, dachte Teddy. Er schauderte und war froh, dass er seine Hände im dichten Fell des Hundes vergraben hatte, so dass Maggie sie nicht zittern sah. Zwei Polizisten kamen an der Tür vorbei, um die zerbrochene Fensterscheibe zu begutachten, und er hörte sie sagen: »Was erwartet er denn?« Teddys Magen verkrampfte sich, was oft geschah, wenn er mit seinem Vater unterwegs war und jemand sie so lange anstarrte, bis sie den Blick als Erste abwendeten.
    Oder seinen Vater in sarkastischem Tonfall »Counselor« nannte. Und am schlimmsten war der Tag gewesen, als er mit seinem Vater vor dem Paradise Ice Cream Schlange gestanden und die reizend aussehende, kleine alte Dame sich zu ihnen gesellt hatte, um lächelnd zu fragen: »Glauben Sie nicht, dass Anne-Marie Hicks jetzt auch gerne ein Eis gehabt hätte?« Anne-Marie Hicks war eines von Greg Merrills Opfern. Die Polizisten blieben nun stehen, sahen flüchtig zu Teddy und Maggie hinüber. Sie würden ihnen nicht die Genugtuung gönnen, den Blick zu erwidern.
    »Teddy?« Maggies Stimme wurde leise, damit die Polizisten sie nicht hören konnten.
    »Ja?«
    »Wie kommt es, dass Dad ihn vertritt?
Ehrlich
?« Sie runzelte die Stirn. Die uralte Frage. Teddy hatte sie ebenfalls gestellt, als er in ihrem Alter war, nur damals war der Beklagte ein anderer gewesen.
    »Wie du schon sagtest, das ist sein Beruf.«
    »Warum verteidigt er nicht lieber Unschuldige?«
    Teddy lachte und warf den zerknüllten Waschlappen ins Waschbecken. Er gab auf, was die Blutflecken betraf; sollte Maggie das fleckige Trikot doch tragen, wenn sie unbedingt wollte. Die Stimme ihres Vaters wurde lauter, er redete auf die Polizisten ein, die in der Diele standen. Die Krise war vorüber – niemand war verletzt, und die Polizei nahm sich des Falles an.
    »Warum lachst du?«, fragte sie.
    »Ich wollte dir gerade vorschlagen, Dad dieselbe Frage zu stellen.«
    »Warum? Weil du genauso denkst? Dass er nur anständige Leute verteidigen sollte, die nichts verbrochen haben?«
    Teddy lief abermals ein Schauer über den Rücken, als er an die Worte der alten Dame im Paradise Ice Cream dachte. Er hatte sich danach im Internet über die ermordeten Mädchen informiert. Anne-Marie Hicks war siebzehn gewesen. Das Foto aus ihrem Highschool-Jahrbuch, das ins Netz gestellt worden war, zeigte sie mit blonden Haaren, die ihr in die Augen fielen, sieben Ohrringen im linken und vier im rechten Ohr und einem breiten Lächeln, das Zahnspangen und eine kleine Lücke zwischen den beiden Vorderzähnen enthüllte.
    »Oder, Teddy? Soll ich Dad deshalb fragen?«
    Teddy fühlte sich erneut hin- und hergerissen, als er sich daran erinnerte, wie seine Mutter stundenlang bei seinem Vater gesessen und ihm die Schultern massiert hatte, wenn er in Vorbereitung auf einen Mordprozess Schriftsätze verfasste und sich in Gesetzestexte vertiefte; sie hatte ihn unterstützt, ungeachtet dessen, was sie selbst von dem jeweiligen Fall hielt.
    »Sag schon, Teddy!«
    Während er in die gespannten, so unbefangenen und sorgenvollen blauen Augen seiner Schwester blickte, war ihm nach Weinen zumute, aber er rang sich nochmals ein Lachen ab. »Mags, ich finde, du solltest Dad selber fragen, warum er schuldige Mandanten vertritt, weil ich mir den Vortrag nicht entgehen lassen möchte, den er dir halten wird.«
    »Einen Vortrag?«
    »Ja. Über das ›Wunder von Philadelphia, das zur Verfassung, zum Sechsten Zusatzartikel und zum Recht jedes Angeklagten auf juristischen Beistand führte …‹ Hipp, hipp, hurra! Und dann wird er dir etwas über Oliver Wendell Holmes erzählen, und dass unsere Gesetzgebung ein ›Zauberspiegel‹ ist, in dem wir unser eigenes Leben erkennen. Frag ihn nur. Du bringst Dad auf Touren, und bis zum
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