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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen
Autoren: Clemens J. Setz
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zufuhr.
    Jetzt wurde er gedreht, er fühlte es. Es war noch so viel in ihm, Flüssigkeit, Substanz, was seine Lage verändern konnte. Wie eine Wasserwaage. Sehr viel Leid.
    Ein warmer Stoffballen, vielleicht ein zusammengeknülltes Hemd, tupfte über seinen Rücken, seine Hüften, seinen Hintern. Wie warme Küsse, unanständige Berührungen an einer kalten Steinstatue. Göttinnen. Sie besaßen keine Po-Ritze, nur eine leichte Vertiefung, glatt und einfärbig, zwei zusammengesteckte Apfelhälften, Halbkugeln aus Marmor.
    Eine Nadel wurde in seinen Arm gepflanzt und blieb dort.
    Marmor, dachte es in ihm. Zeit. Steinerne Hallen, Monumente, Bauten. Untergang des Römischen Imperiums. Geheimagenten des Glaubens in den Katakomben mit dem verbotenen Fischsymbol auf den fackelflackernden Wänden.
    Ein letzter Urinstrahl entkam ihm und traf einen Fremden am Handgelenk, dann bemerkten alle Anwesenden, die verzweifelte Pflegerin und die aufgrund eines Staus gerade erst eingetroffenen Rettungskräfte, die Veränderung auf seiner Stirn: Sie war in Falten gezogen, unverrückbare Falten.
    Den Sanitätern blieb nichts anderes übrig, als ratlos in der Gegend herumzustehen, so weltfern und verloren in der Zeit wie Menschen auf einer jahrhundertwendebraunen Strandfotografie. Der junge Zivildiener mit dem Pferdeschwanz hatte noch nie in seinem Leben einen Toten gesehen und blickte deshalb zu Boden, auf die Schultern seiner Kollegen und in das Gesicht der Asiatin, das selbst noch hübsch war, wenn es Tränen vergoss.
    –
Ähh …
    Er trat aus seinen steinernen Schmerzen heraus und hinein ins gefühllose Gras, zwischen die Gäste, die sinnlos und bunt im Garten herumstanden und sich mit lauten Zungenlauten unterhielten.
    Wer?
, schlug eine alte, abgewetzte Glocke in seiner Brust.
Wer?
    Das Trafikhäuschen aus der Vergangenheit zog ihn an. Verkohlte Überreste. Brandstiftung, niemals aufgeklärt. Wie durch ein Wunder niemand verletzt. Sein Tag hatte immer hier begonnen. Unterwegs zur Arbeit. Die Besitzerin, eine ältere Frau, hatte sich hier an einem Neujahrsmorgenerhängt. Ihr Mann hatte sie entdeckt, und sein großes, rundes Gesicht hatte sich zu einer Maske grenzenlosen Entsetzens verzogen, als sei sein Auge von einer der letzten Feuerwerksraketen durchbohrt worden, die man am Morgen immer noch überall in der Stadt hören konnte, ewige Nachzügler und Spätzünder. Und das weit entfernte, vom Beton der Hausmauern trockengeriebene Echo von Schweizerkrachern, das in seiner Unregelmäßigkeit ein wenig an die mysteriösen Klopfzeichen von Geigerzählern erinnerte, stellte die feinen Nackenhaare der tot pendelnden Frau auf; sie waren das Feinste an ihr und verabschiedeten sich als allerletzte. Im Gras vor dem kleinen Trafikhäuschen lagen die leeren Hülsen kleinerer Knaller, verschossene Munition. Erfolgreich ausgetriebene Dämonen des alten Jahres.
    Messerschmidt wandte sich ab.
    Weiter.
    Eine Frau, die gerade eine schwierige Geschichte mit ihrer Tochter hinter sich hatte. Die Tochter trug lange – was zum Teufel waren
Dreadlocks
? – und trank zu viele Energy-Drinks, von denen sie einen leichten Flaum auf der Oberlippe bekam. Sie hatte sich vor kurzem mit einem Schwarzen verlobt. Er hieß Claude und kam aus Ghana. Er hatte weiße Handflächen, auf die sie aus irgendeinem Grund ständig starren musste, und einen Job bei einer Baufirma. Ihre Tochter liebte ihn und stritt sich deshalb mit ihrer Mutter, die sich in einem Anfall von Selbstmitleid ein neues Kleid gekauft und der Tochter die Tür gewiesen hatte. Claude war daneben gestanden, hatte sich langsam seine Kappe aufgesetzt und war dann hinter seiner Freundin her gegangen.
    Weiter.
    Ein Mann, der gerne auf Hochzeiten den dummen Augustspielte, auch wenn er in Wirklichkeit das Klavier besser spielen konnte. Er verwaltete heute die Getränke und wünschte sich, dass er einmal so berühmt sein würde wie sein Idol, der Jazzpianist Keith Jarrett. Einmal hatten er und seine Frau sich in Wien ein Konzert von Jarrett angesehen. Jarrett spielte das Klavier, als würde er wild in einer Badewanne planschen, die Musik schäumte auf, bildete kleine Rinnsale, schwappte links und rechts über die Tastatur, und er hatte sich keinen besseren Rat gewusst, als zwei Stunden lang mit halb offenem Mund dazusitzen.
    Weiter.
    Ein junger, ernster Mann mit Brille. Er fühlte sich auf Hochzeiten nie wohl, da sie ihn an Kinderkriegen und das uralte Elementarproblem von Vater und Sohn erinnerte, über das er
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