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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen
Autoren: Clemens J. Setz
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und so zu tun, als würde er ihn nicht erkennen, mit der albernen, viel zu großen Baskenmütze auf dem Kopf.
    Weiter.
    Zwillinge im Kinderwagen. Ihre Köpfe zwei leere Zirkuszelte von der Größe einer Nussschale. Ein fingernagelgroßes Fenster in die Welt. Jedes an sie gerichtete Wort eine Mondlandung, eine strahlende Pionierfahrt.
    Weiter.
    Die dazu gehörige Mutter, sehr erschöpft, weil es wieder eine schlimme Nacht gewesen war. Dafür war der Morgen überraschend schön, kein Geschrei, und auch das Füttern hatte kaum wehgetan (fast schon ein Wunder bei ihren wundgebissenen
Knospen
, wie ihr Mann mit seinem verschmitzten Hundegesicht immer sagte). Dann hatte sie sich eine weitere Folge ihrer Lieblingsserie angesehen, die seit neuestem vormittags lief, und hatte heimlich geweint, während die Zwillinge in ihren völlig identischen Pyjamas im Sandmännchenland herumdümpeln durften.
    Weiter.
    Ein unauffällig gekleideter Mann, der nur aus Höflichkeit eingeladen worden war, wie er sich sicher war. Im Grunde gehörte er gar nicht unter Leute. Seit er aufgrund eines Schocks, den ihm eine starke Nussallergie eingebrockt hatte, innerhalb weniger Monate zu Gott gefunden hatte, ertrug er den Anblick von Menschenhaut nicht mehr. In seiner Freizeit sammelte er Schneekugeln.
    Weiter.
    Ein junger Mann, der eigentlich für die musikalische Unterhaltung vorgesehen war, später dann. Man erwartete fröhliche Saxophonmusik von ihm, durchaus verständlich, denn alle Welt liebte das Saxophon, dieses leidenschaftlich röhrende Balzinstrument. Dabei machte es ihm längst keinen Spaß mehr. Er hatte seine Interessen verlagert und war nun jemand anderer. Aber was würden seine Eltern sagen, wenn er eine Japanerin heiratete? Wardas
zu
anders? Immerhin lebte und arbeitete sie hier, also war zumindest dieses heikle Thema schon vom Tisch. Ach, zum Henker, er würde zehn oder zwanzig Minuten spielen, schließlich konnte ihn niemand zwingen, länger auf der dummen Tröte herumzuleiern. Albernes Zweiter-Frühling-nach-dem-Herbst-des-Lebens-Pärchen.
Brrrr!
    Weiter.
    Ein Mann, ein früherer Schüler des Bräutigams. Er hatte trotz seines Nachnamens studiert, was ihn schon immer interessiert hatte: Linguistik. Und nun war er ein herumlaufender Witz in Person:
Linquist der Linguist
. Natürlich lachten die Leute, aber er liebte es. Er wollte es für nichts in der Welt eintauschen. Und er liebte Prof. Dr. Kerfuchs, der jeden seiner Aufsätze immer mit Akribie und Ausdauer durchgesehen hatte, sodass sich diese Tugenden auf geheimnisvolle Weise auch auf ihn übertragen hatten, bis er sie irgendwann zu seinem persönlichen Regelwerk erklärt hatte.
    Weiter.
    Ein junges Mädchen, das mit ihren zwölf Jahren schon so religiös war, dass sie nicht glauben konnte, man könnte ein zweites Mal in Gott vereint sein, auch wenn sie den Sinn der Vereinigung noch nicht genau benennen konnte. Sie war die Tochter einer Arbeitskollegin der Braut. Sie hatte es noch niemandem erzählt, aber sie hatte zu Jesus gebetet, er möge das Schulhaus abbrennen lassen, vor allem die Turnhalle. Diese stinkende Umziehkabine, wo ihr das entsetzliche Missgeschick passiert war: Stigmata, Blut. Das Problem an der ganzen Sache war, dass Jesus ihr sogar geantwortet hatte.
    Weiter, um Himmels willen.
    Ein glatzköpfiger Mann in einem Rollstuhl. Mein Gott, auch in ihm war sehr viel Verwirrung. Ein Mann wie einStück Holz, das in einem versteinerten Wald darauf wartet, wie alles andere zu Stein zu werden, während sich Borkenkäfer und anderes Getier weiter munter durch seine Eingeweide bohren. Eine Rückenverletzung, multiple Sklerose. Aber irgendwann blieb die Krankheit einfach stecken, wie ein Brocken im Hals. Es war sehr viel zusammen gekommen, was ihn belastete, aber er hatte sich geschworen, heute glücklich zu sein. Er war tatsächlich gekommen, Alexander, den er so lange nicht mehr –
    Messerschmidt legte seine Hände von hinten auf die Schultern des alten Mannes und dieser schüttelte sich.
    Weiter.
    Eine ältere Frau, ihr Herz war ein kleiner, springender Hund. Sie schritt mitten durch Messerschmidt hindurch, ohne ihn zu spüren. Ihre Wangen waren gerötet. Ihre Brüste waren zwei runde und wohlgeformte Tempelfeuer, die niemals erlöschen durften und um die sich Männer in Priestergewändern stritten. Dieser Tag gehörte nur ihr allein. Nur ihnen allein. Sie war der Mittelpunkt. Zum ersten Mal in ihrem Leben. Mein Gott, sie hatte überhaupt nicht mehr damit gerechnet, mit
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