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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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schmutzigen orangen Overall mit der rätselhaften Aufschrift
Stahlstift
und konzentrischen Urinflecken um die Hosenbeine; wie Jahresringe, an denen man die Dauer ihrer Verwahrlosung ablesen kann. Der äußerste Ring ist der hellste und dürfte ungefähr eine Woche alt sein – das sagt mir meine Erfahrung aus der Zeit im Altersheim. Aber das alles ist tausend Jahre her und natürlich kann ich mich auch irren. Um das Handgelenk trägt die Frau ein weißes Klinikarmband.
    Sie fixiert Gerald.
    – Wollen Sie es kaufen?, fragt sie ihn freundlich.
    – Gerald, komm, sage ich.
    Die Frau geht uns ein paar Schritte nach.
    – Wollen Sie –
    – Nein, danke, sage ich.
    Ich ziehe Gerald am Ärmel.
    – Aber ich muss mir doch eine Fahrkarte kaufen, ruft uns die Frau nach. Sonst verpasse ich alles …
    – Sie müssen sich was zum Anziehen kaufen.
    Die Frau denkt über meine Worte genau nach, dann antwortet sie:
    – Ich habe Hunger.
    – Hier, sage ich und krame eine Münze aus meiner Tasche. Kaufen Sie sich was zu essen.
    Die verwirrte Frau blickt zurück zu dem kleinen Schiffchen, das immer noch auf dem Asphalt steht, unverkauft, zwischen dunklen Kastanien und ihren grünen Hülsen. Ihre schmutzverkrusteten Finger picken die Münze aus meiner Hand, dann geht sie zu ihrem kleinen Schatz zurück, hebt ihn auf und steckt ihn in eine Tasche ihresOveralls. Ich nutze die Gelegenheit, um Gerald mit mir fort zu ziehen. Erst als wir schon außer Sichtweite sind, lasse ich seinen Ärmel los.
    Da er sehr still geworden ist, sage ich in einem bemüht nebensächlichen Ton, als würde ich eine beruhigende Diagnose stellen:
    – Eine arme Frau. Verwirrt. Hat wahrscheinlich kein Zuhause. Und abhängig dürfte sie auch sein –
    – Ja doch, unterbricht mich Gerald, als würde er diesen Satz nun schon zum hundertsten Mal hören.
    Seit ich ihn losgelassen habe, fingert er nervös an seinem Pullover herum. Vielleicht habe ich ihn ausgeleiert. Schließlich entscheidet er sich dafür, beide Ärmel hochzurollen. Und er hat Recht damit. Auch mir ist ziemlich warm geworden.
    Auf dem letzten Wegstück verlaufen wir uns mehrmals, obwohl ich eine Wegskizze auf den unsinnigen Zettel mit den vielen, vielen Zahlen gezeichnet habe: Um Gerald zu unterhalten und um meine eigene Nervosität mit kleinen Fluchtspielen zu vertreiben, tue ich gelegentlich so, als würden wir verfolgt, und renne durch offen stehende Haustüren in fremde Innenhöfe, wo ein majestätischer Wäscheständer steht wie etwas irrtümlich Eingefrorenes oder ein geometrisches Blumenbeet von einem kleinen, todernsten Nicht-Betreten-Schild bewacht wird. Gerald geht mir jedes Mal nach und lacht, wenn ich mich peinlich berührt umdrehe, als wollte ich sagen:
Wieder geirrt
. Die verwirrte Frau hat er längst vergessen.
    Ich werde eine Bombe hochgehen lassen, denke ich, mitten in der Zeremonie.
    Mein Herz schlägt wild, als wir an einem Polizisten vorbeikommen. Der Polizist ahnt nichts von der Bombe. Ergeht weiter, ohne mir nachzulaufen. Für ihn bin ich einfach ein Mann, der … der mit … der mit seinem …
    –
Nessun Dorrrrma
, singe ich vor mich hin.
    Mein Ohrwurm wird schriller und lauter, je näher wir unserem Ziel kommen.
    –
Ma il mio misteeero è chiuso in meeee

    – He, Alex!
    – Was?
    – Du singst.
    Und schon ist unsere Reise zu Ende, die kleine Vorübung für eine gemeinsame Flucht nach Panama. Das muss der Garten sein. Menschengeräusche, entferntes Gelächter hinter einem alten Trafikgebäude, das schon lange nicht mehr bewohnt ist. Ein auf orangefarbenem Papier gedrucktes, großformatiges Einladungsschild mit einer gezeichneten Hand:

    In dem Garten steht ein großer, schräg aus dem Erdreich ragender Baum, der sich in leidenschaftlicher Erstarrung an den Verlauf einer Wasserader anschmiegt, weil er ohne sie nicht leben kann. Der Anfang muss unerhört einfach gewesen sein für ihn, denke ich, man besteht aus reinem Wachstum, Rankenwerk, schwingt sich als einzelnes, zweigdünnes Etwas in die Höhe, und, egal wie dünn die Sonnenstrahlen fallen, man bekommt immer genug Licht, und wenn es Abend wird, erstarrt man einfach in der eingenommenen Position, eine ausdrucksstarke Arabeske in der Dunkelheit. Aber diese Zeiten sind vorbei, die Langsamkeit hat endgültig von ihm Besitz ergriffen, und allem, wonach er sich sehnt, wächst er mit ungeheurer Anstrengung entgegen: Jeden Augenblick ist es etwas anderes, was sein Interesse weckt, deshalb sind seine Äste auch soverwinkelt.

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