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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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Wirklichkeit sind all die Handys kleine, standhafte Nussknacker. Ich würge einen von ihnen. Die Augen der Gäste weiten sich. Die Mädchen sind verschwunden, ebenso die Girlanden auf den Bäumen. Die Rosenbüsche schütteln sich vor Abscheu. Mein Vater ist zu einem kleinen schwarzen Kofferradio geschrumpft.
    – Warte, ich geb dir Nüsse. Da!
Da Nuces
!
Pueris
!
    Der Nussknacker gibt Geräusche von sich, als würde er ertrinken.
    Ich werde in Ketten abgeführt. Mein Vater unterschreibt eine Erklärung.
    Die Sache geht durch alle Instanzen. Ein kletterndes Insekt von enormer Tragweite, ein Giftschimmelpilz, der die besorgten Bewohner von Sitzungszimmern und unterirdischen Raketenstützpunkten bedroht. Schon am folgenden Tag erscheint der Präsident im Fernsehen. Eindringlich spricht er von einer neuen Gefahr, die sich wie ein Parasit am Nährboden der Gesellschaft festgebissen hat. An einer Hand zählt er die Grundpfeiler der Demokratie und des Friedens auf. Der Daumen ist die
Selbstbeherrschung
, das Rückgrat moderner Gesellschaften.
    Eine rhetorische Pause.
    Dann macht er denselben Trick noch einmal mit seiner linken Hand. Diesmal ist die
Selbstbeherrschung
der kleine Finger. (In seiner Freizeit spielt der Herr Präsident Klavier, deshalb denken seine Finger in einer anderen Reihenfolge als wir.)
    Anschließend wird er konkreter. Einige Male fällt mein Name, im Zusammenhang einer weitschweifigen Analyse des enormen Potenzials an Subversivität, das Kindern aus zerbrochenen Familien eigen ist. Er zitiert Hegel über denuniversellen Zusammenhang zwischen Familie und Staat. Letztendlich sei dieser Unterschied nichts anderes als eine Frage der verwendeten Teleskoplinse.
    Der Präsident atmet aus.
    Präsidenten und Präsidentinnen. Es ist eine Gefahr unter uns. Wir dürfen uns davor nicht verschließen, sonst zermalmt sie uns. Es ist Zeit zu handeln
.
    Dreimal, in beschwörender Langsamkeit, nennt er meinen vollen Namen, spricht den Nachnamen sogar richtig aus, mit einem langen E.
    Und wenn wir an unseren Fernsehgeräten zuhause genau hinsehen – und nichts anderes bleibt uns übrig –, erkennen wir in seinen Augen die zarten Reflexionen des Teleprompters, diese großen weißen Wörter, die langsam aufwärts schweben, als wären sie an Luftballons gebunden, stetig aufwärts, wie die vielen Namen im Abspann eines Films.
    Gerald und ich gehen am Stadtpark vorbei, durch eine kleine Allee. Jetzt erst fällt mir auf, was ich da mache. Ich gehe mit einem Nachbarskind auf die Hochzeit meines Vaters. Ein Knoten öffnet sich in meinem Kopf, wie eine Rose.
    – Alex?
    – Ja, was mache ich jetzt wieder? Ich gehe, oder?
    – Nein, ich müsste mal aufs Klo.
    – Du
müsstest
oder du musst?
    – Ich muss.
    –
Jetzt
?, frage ich im Tonfall seiner Mutter und halte ein imaginäres Cocktailglas in die Höhe.
    Ich erwarte, dass er zumindest ein wenig lächelt, aber er erkennt die Parodie nicht.
    – Jetzt, sagt er.
    Ich lasse das Cocktailglas fallen.
    – Na, dann geh hier irgendwo, ich meine … wird schon nicht verboten sein … vielleicht hinter einen Baum.
    – Aber Alex …
    – Ich stelle mich als Wache hin.
    – Okay. Aber du musst dich umdrehen.
    Ich blicke durch die Baumreihe auf parkende Autos und ein kleines, von innen prächtig erleuchtetes Eigenheim, aus dessen Dach eine massive Satellitenschüssel wächst. Hinter mir plätschert es. Nach einer Weile frage ich die Autos und das große Metallohr mit der blasphemischen Aufschrift
SatAn
:
    – Bist du bald fertig?
    Keine Antwort. Kleidergeräusche, Gürtelschnalle.
    – Alex?
    – Ja?
    – Du bist total ungeduldig.
    Ich trete auf eine Kastanienhülle und schiebe sie unter der Schuhsohle hin und her.
    – Ja, stimmt.
    – Komm ja schon.
    Gerald kommt, sich das Hemd in die Hose steckend, hinter dem Baum hervor. Schweigend gehen wir weiter bis ans Ende der Allee. Ein lauter Rap-Song fährt mit heruntergelassenen Seitenfenstern an uns vorbei.
    Gerald wird langsamer und beugt sich über etwas, das am Boden liegt. Zuerst kann ich nichts erkennen, dann bemerke auch ich es: Ein kleines Schiffchen aus Zeitungspapier, etwa so hoch wie ein Bleistift.
    – Wollen Sie es kaufen?
    Eine Frau ist hinter einer der noch unbeklebten Litfaßsäulen hervorgetreten, die jemand in unschuldiger Inspiration mit dem Wort
Fuck
verziert hat. SchlaffeHautsäcke hängen unter ihren müden und kraftlosen Augen. Ihre Frisur ist ein wirres Storchennest, sie trägt ein Paar alter Turnschuhe und einen

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