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Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)

Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)

Titel: Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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aufrichtiger Verzweiflung an. Außer sich vor Schmerz, sie war gerade einem Schiffbruch entgangen, aus dem sie von ihrer ganzen prächtigen Familie nur ein einziges Kind gerettet hatte, sagte die Witwe des Korsaren mit schrecklicher Stimme zu ihrer Mutter: »All dies ist Ihr Werk! Wenn Sie für mich gewesen wären, was ...« – »Moina, geh hinaus, geht alle hinaus!« schrie Madame d'Aiglemont laut, um Hélènes Stimme zu übertönen. »Ich flehe dich an, liebe Tochter, erneuern wir nicht in diesem Augenblick die traurigen Kämpfe ...« – »Ich werde schweigen«, gab Hélène mit übermenschlicher Anstrengung zur Antwort; »ich bin Mutter, ich weiß, daß Moina nicht ... Wo ist mein Kind?« Moina kam, von Neugierde getrieben, wieder herein. »Liebe Schwester«, sagte das verwöhnte Kind, »der Arzt...« – »Alles ist nutzlos«, erwiderte Hélène; »ach, warum bin ich nicht mit sechzehn Jahren gestorben, als ich mir das Leben nehmen wollte. Es gibt kein Glück außerhalb der Gesetze ... Moina ... du ...«
    Sie starb, den Kopf auf ihr Kind gebeugt, das sie krampfhaft an sich preßte.
    »Deine Schwester wollte dir jedenfalls sagen, Moina«, nahm Madame d'Aiglemont das Wort, als sie in ihr Zimmer zurückgekehrt war, wo sie in Tränen zerfloß, »daß das Glück für ein Mädchen niemals in einem romantischen Leben, außerhalb der herkömmlichen Anschauungen und besonders fern von seiner Mutter zu finden ist.«

6. Das Alter einer schuldigen Mutter
    An einem der ersten Junitage des Jahres 1844 erging sich eine etwa fünfzigjährige Dame, die jedoch noch älter schien, als es in der Natur ihrer Jahre lag, unter den Bäumen des Parks, der zu einer in der Rue Plumet in Paris gelegenen Villa gehörte. Sie war schon zwei- oder dreimal den leichtgewundenen Fußpfad auf und ab gewandert, den sie nicht verließ, um nicht die Fenster einer Wohnung aus dem Auge zu verlieren, die ihre ganze Aufmerksamkeit zu fesseln schien; schließlich ließ sie sich auf einem der halb ländlichen Stühle nieder, wie sie aus jungen Baumstämmen, die noch mit ihrer Rinde überzogen sind, hergestellt werden. Von dem Platz aus, wo sich dieser elegante Sitz befand, übersah die Dame durch ein Gartengitter sowohl die innern Boulevards, in deren Mitte sich der wundervolle Dome des Invalides erhebt, der mit seiner goldenen Kuppel zwischen den Kronen eines Ulmenwaldes emporragt, als auch ihren weniger großartigen Garten, den die graue Fassade eines der schönsten Häuser des Faubourg Saint-Germain abschloß. Überall war noch alles still, die benachbarten Gärten, die Boulevards, der Dom; denn in diesem vornehmen Viertel beginnt der Tag kaum vor zwölf Uhr. Falls nicht eine besondere Laune eine Ausnahme herbeiführt, eine junge Dame ausreiten will oder ein alter Diplomat ein Protokoll neu aufzusetzen hat, schläft zu dieser Stunde noch alles oder fängt erst an aufzuwachen, Diener und Herrschaften.
    Die alte Dame, die schon so frühzeitig auf war, war die Marquise d'Aiglemont, die Mutter von Madame de Saint-Héreen, der dieses prächtige Haus gehörte. Die Marquise hatte zugunsten ihrer Tochter, der sie ihr ganzes Vermögen geschenkt hatte, auf das Haus verzichtet und für sich nur eine lebenslängliche Rente zurückbehalten. Comtesse Moina de Saint-Héreen war das letzte Kind von Madame d'Aiglemont.
    Um ihr die Heirat mit dem Erben eines der erlauchtesten Hauser Frankreichs zu ermöglichen, hatte die Marquise alles geopfert. Nichts war natürlicher, sie hatte nacheinander zwei Söhne verloren: der eine, Gustave Marquis d'Aiglemont, war an der Cholera gestorben, der andere, Abel, war vor Constantine gefallen. Gustave hatte eine Witwe nebst Kindern hinterlassen. Aber die geringe Zuneigung, die Madame d'Aiglemont ihren beiden Söhnen entgegenbrachte, war noch schwächer geworden, da sie auf die Enkelkinder überging. Sie stand auf gutem Fuß mit der jungen Madame d'Aiglemont; aber sie ließ es bei dem oberflächlichen Gefühl bewenden, das man seinen nächsten Angehörigen zum mindesten bezeigen muß, wenn man nicht den guten Ton und die Schicklichkeit verletzen will. Da die Vermögensangelegenheiten ihrer verstorbenen Kinder vollkommen geregelt waren, hatte sie für ihre geliebte Moina ihre Ersparnisse und ihr persönliches Eigentum bestimmt. Madame d'Aiglemont hatte für Moina, die von Kindheit an entzückend schön war, von jeher die unwillkürliche innere Vorliebe gehegt, wie sie bei Müttern häufig vorkommt: eine oft verhängnisvolle
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