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Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)

Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)

Titel: Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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d'Aiglemont die Möglichkeit hat, ihre geliebte Tochter zu sehen, während sie sich ankleidet oder beim Diner, wenn die liebe Moina zufällig einmal mit ihrer Mutter diniert. Es sind noch nicht acht Tage her, Monsieur«, sagte der Schmarotzer und nahm einen schüchternen jungen Hauslehrer, der in dem Hause, in dem er sich befand, neu angekommen war, beim Arm, »daß ich diese arme Mutter traurig und allein am Kamin sitzen sah. ›Was ist Ihnen?‹ fragte ich sie. Sie sah mich mit einem Lächeln an, aber sie hatte sicherlich geweint. ›Ich dachte‹, gab sie mir zur Antwort, ›wie sonderbar es ist, daß ich so allein bin, da ich doch fünf Kinder geboren habe; aber das liegt in unserm Schicksal! Und im übrigen bin ich glücklich, wenn ich weiß, daß Moina sich amüsiert.‹ Mir konnte sie sich anvertrauen, ich habe vormals ihren Mann gekannt. Er war ein armer Kerl, der von Glück sagen konnte, sie zur Frau gehabt zu haben; er verdankte ihr sicherlich seine Pairswürde und sein Amt am Hofe Karls X.«
    Aber es schleichen sich in die Unterhaltungen der Gesellschaft so viele Irrtümer ein, es werden dort leichten Sinnes so viele Wunden geschlagen, daß der Sittenschilderer genötigt ist, die von so vielen Sorglosen sorglos hingeworfenen Behauptungen weise abzuwägen. Vielleicht läßt es sich niemals feststellen, wer recht oder unrecht hat: das Kind oder die Mutter. Zwischen diesen beiden Herzen gibt es nur einen Richter. Dieser Richter ist Gott. Gott, der seine Rache oft im Schoß der Familie übt, der sich ewig der Kinder gegen die Mütter, der Väter gegen die Söhne, der Völker gegen die Könige, der Fürsten gegen die Nationen, aller gegen alle bedient; der in der moralischen Welt die Gefühle von andern Gefühlen ablösen läßt, wie die jungen Blätter im Frühling die alten abstoßen; der nach einem unwandelbaren Gesetz und einem Zweck, den er allein kennt, handelt. Kein Zweifel, jedes Ding geht schließlich in seinen Schoß oder vielmehr kehrt zu ihm zurück.
    Diese religiösen Gedanken, die den Herzen der alten Leute so natürlich sind, keimten in der Seele Madame d'Aiglemonts; sie dämmerten dort, bald ruhten sie in der Tiefe, bald entfalteten sie sich vollendet, Blumen gleich, die vom Sturm auf die Oberfläche des Wassers getrieben werden. Von langem Nachdenken erschöpft, von einer jener Träumereien, in denen vor den Augen derjenigen, die den Tod herannahen fühlen, das ganze Leben aufersteht und sich wieder abspielt, hatte sie sich müde auf diese Bank gesetzt.
    Diese Frau, die vor der Zeit gealtert war, wäre für einen Dichter, der auf dem Boulevard vorübergegangen wäre, ein seltenes Bild gewesen. Wie sie so in dem spärlichen Mittagsschatten einer Akazie saß, hätte man tausenderlei Dinge von diesem Antlitz ablesen können, das selbst bei den heißen Sonnenstrahlen kalt und bleich war. Ihr ausdrucksvolles Gesicht enthüllte noch etwas Ernsteres als ein zur Neige gehendes Leben, noch etwas Tiefergehendes als eine von schweren Erlebnissen entkräftete Seele. Es war eines von der Art, welches euch – unter tausend Physiognomien, die man übersieht, weil sie ohne Charakter sind, – zum Stillstehen, zum Nachdenken zwingt; so wie man unter tausend Bildern eines Museums gepackt wird von dem herrlichen Kopf, in dem Murillo den Mutterschmerz zum Ausdruck bringt, oder von dem Antlitz Beatrice Cencis, in welchem Guido Reni die rührendste Unschuld inmitten des entsetzlichsten Verbrechens darstellt, oder von dem finstern Gesicht Philipps II., in dem Velazquez ein für allemal die schreckliche Majestät der Herrschermacht verkörpert hat. Manche menschlichen Gesichter sind herrische Mahner, die zu euch reden, euch befragen, euch auf geheime Gedanken Antwort geben und ganze Tragödien auszudrücken scheinen. Das eisige Antlitz Madame d'Aiglemonts war eine solche schreckliche Dichtung, ein Gesicht, wie man es zu Tausenden in der ›Göttlichen Komödie‹ von Dante Alighieri auftauchen sieht.
    Während der kurzen Blütezeit der Frau dienen die Ausdrucksmittel ihrer Schönheit vortrefflich der Verstellung, zu der ihre natürliche Schwäche und unsere sozialen Gesetze sie verdammen. Unter dem reichen Kolorit ihres frischen Gesichts, unter dem Feuer ihrer Augen, unter dem lieblichen Netz ihrer feinen Züge, so vieler gebogenen oder geraden, aber stets vollkommen reinen und festen Linien können ihre Empfindungen verborgen bleiben: die Röte, die ihre schon so lebhaften Farben noch kräftiger hervortreten läßt,
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