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Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)

Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)

Titel: Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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Eines Tages nun überraschte Julie ihre Tante dadurch, daß sie ihre Ehe völlig vergessen zu haben schien. Der Leichtsinn eines unbesonnenen jungen Mädchens war über sie gekommen, die Unbefangenheit und kindliche Harmlosigkeit, die bei feinen und oft tiefen Anlagen unter den jungen Mädchen Frankreichs nichts Seltenes ist. Madame de Listomère beschloß, den Geheimnissen dieser Seele auf den Grund zu kommen, deren seltene Natürlichkeit wie undurchdringliche Verstellung schien. Gegen Abend saßen die beiden Damen an einem Fenster, das auf die Straße ging. Julie war wieder nachdenklich geworden, als ein Reiter vorbeikam. »Da ist eins von Ihren Opfern«, bemerkte die alte Dame. Madame d'Aiglemont sah ihre Tante in einer Weise an, die Erschrecken und Erstaunen zugleich bekundete.
    »Es ist ein junger Engländer, ein Edelmann, Baron Arthur Ormond, ältester Sohn von Lord Grenville. Seine Geschichte ist interessant. Er kam im Jahre 1802 nach Montpellier, wohin ihn die Ärzte geschickt hatten, in der Hoffnung, daß das Klima dieser Gegend ihn von einem Lungenleiden heilen würde, dem er zu erliegen schien. Wie alle seine Landsleute hatte ihn Napoleon bei Ausbruch des Krieges gefangennehmen lassen, denn dieses Ungeheuer kann nicht anders, es muß Krieg führen. Um sich zu zerstreuen, fing der junge Engländer an, seine Krankheit, die man für tödlich hielt, zu studieren. Nach und nach fand er Geschmack an der Anatomie, der Medizin; heute begeistert er sich leidenschaftlich für jene Wissenschaften, was für einen Mann von Stand etwas sehr Außergewöhnliches ist, obgleich der Regent sich ja auch mit Chemie beschäftigte. Kurz, Monsieur Arthur machte erstaunliche Fortschritte, sogar in den Augen der Professoren von Montpellier. Das Studium tröstete ihn über seine Gefangenschaft, und nebenbei hat er sich radikal auskuriert. Man behauptet, er habe zwei Jahre lang nicht gesprochen und möglichst wenig geatmet, habe in einem Stall gelegen, Milch von einer Schweizer Kuh getrunken und von Kresse gelebt. Seit er in Tours ist, hat er niemanden besucht, er ist stolz wie ein Pfau; aber Sie haben sicher eine Eroberung an ihm gemacht, denn meinetwegen kommt er nicht zweimal des Tages an unsern Fenstern vorbei, seit Sie hier sind. Wahrscheinlich ist er in Sie verliebt.«
    Diese letzten Worte ließen die Comtesse, wie von einem Zauberschlag getroffen, auffahren. Ihre abwehrende Bewegung und ihr Lächeln überraschten die Marquise. Weit entfernt von der instinktiven Befriedigung, die auch die strengste Frau empfindet, wenn sie vernimmt, daß ein Mann ihretwegen unglücklich ist, war Julies Blick finster und abweisend geworden. Ihr Gesicht verriet einen Widerwillen, der an Abscheu grenzte. Es war nicht die Achterklärung einer liebenden Frau gegen die ganze Welt zugunsten eines einzigen – dabei hätte sie lachen und scherzen können –, nein, Julie war in diesem Augenblick wie jemand, den die Erinnerung an eine noch als gegenwärtig empfundene Gefahr schaudern macht. Die Tante, die überzeugt war, daß ihre Nichte ihren Neffen nicht liebte, war entsetzt, als sie entdeckte, daß sie niemanden liebte. Sie zitterte davor, in Julie ein gänzlich ernüchtertes Herz zu finden, eine junge Frau, bei der die Erfahrung eines Tages, einer Nacht vielleicht hinreichend gewesen war, Victors Bedeutungslosigkeit zu erkennen.
    Wenn sie ihn durchschaut hat, ist alles klar, dachte sie, ›dann wird mein Neffe bald die Schattenseiten der Ehe kennenlernen.‹
    Sie nahm sich vor, Julie zu den monarchischen Lehren des Zeitalters Ludwigs XV. zu bekehren; jedoch einige Stunden später erfuhr oder vielmehr erriet sie die in der Welt ziemlich alltäglichen Umstände, die an Julies Melancholie schuld waren. Julie, die auf einmal sehr nachdenklich geworden war, zog sich früher als gewöhnlich in ihr Zimmer zurück. Nachdem ihre Zofe sie entkleidet und sie nach beendeter Nachttoilette verlassen hatte, blieb Julie noch vor dem Feuer auf einem Ruhebett aus gelbem Samt sitzen, einem alten Möbel, das ebenso geeignet für bekümmerte wie für glückliche Menschen ist. Sie weinte, sie seufzte, sie sann nach. Dann zog sie ein kleines Tischchen zu sich heran, suchte Papier und machte sich ans Schreiben. Die Stunden vergingen rasch, die vertraulichen Mitteilungen, die Julie in diesem Brief machte, schienen sie viel Überwindung zu kosten; nach jedem Satz verlor sie sich in Träumereien. Mit einem Male zerfloß die junge Frau in Tränen und hielt mit Schreiben inne.
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