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Die Frau des Zeitreisenden

Die Frau des Zeitreisenden

Titel: Die Frau des Zeitreisenden
Autoren: Audrey Niffenegger
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Kunstgeschichte. Mein Thema ist die Chaucer-Ausgabe der Kelmscott-Press. Ich schlage das Buch nach und fülle einen Bestellzettel aus. Aber ich möchte auch etwas über die Buchkunst bei Kelmscott-Press lesen. Der Katalog verwirrt mich. Ich gehe zur Information zurück und bitte um Hilfe. Während ich der Frau erkläre, was ich suche, blickt sie über meine Schulter hinweg zu jemandem, der hinter mir vorbeigeht. »Vielleicht kann Ihnen Mr DeTamble weiterhelfen«, sagt sie. Ich drehe mich um, darauf gefasst, das Ganze erneut erklären zu müssen, und sehe mich Henry gegenüber.
    Mir verschlägt es die Sprache. Da ist Henry, ruhig, in Kleidern, jünger, als ich ihn jemals gesehen habe. Henry arbeitet in der Newberry, er steht leibhaftig vor mir, in der Gegenwart. Hier und jetzt. Ich bin außer mir vor Glück. Henry sieht mich geduldig an, leicht verunsichert, aber höflich.
    »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«, fragt er.
    »Henry!« Ich muss mich zurückhalten, um ihm nicht um den Hals zu fallen. Aber offensichtlich hat er mich noch nie in seinem Leben gesehen.
    »Kennen wir uns? Tut mir Leid, ich...« Henry sieht sich um, befürchtet, wir könnten von Lesern oder Kollegen bemerkt werden, durchforstet sein Gedächtnis und begreift, dass eine zukünftige Ausgabe seines Ichs diesem strahlend glücklichen Mädchen, das da vor ihm steht, schon einmal begegnet ist. Als ich ihn das letzte Mal sah, hat er mir auf der Wiese die Zehen gelutscht.
    Ich versuche, es ihm zu erklären: »Ich bin Clare Abshire. Ich kannte dich schon als kleines Mädchen...« Es ist mir peinlich, in einen Mann verliebt zu sein, der vor mir steht und nicht die leiseste Erinnerung an mich hat. Für ihn liegt alles in der Zukunft. Am liebsten würde ich lachen, so komisch finde ich die Situation. Die vielen Jahre, seit ich Henry kenne, gehen mir durch den Kopf, er dagegen sieht mich verdutzt und ängstlich an. Henry, der die alte Anglerhose meines Vaters anhat und mich geduldig das Einmaleins, französische Verben, alle Hauptstädte der Bundesstaaten abhört; Henry, der über ein seltsames Abendessen lacht, das ich ihm als Siebenjährige zur Wiese gebracht habe; Henry im Frack, der sich an meinem achtzehnten Geburtstag mit zitternden Händen die Manschettenknöpfe öffnet. Er ist hier! In diesem Augenblick! »Wollen wir uns zum Kaffee verabreden oder essen gehen?« Er muss einfach ja sagen, dieser Mann, der mich in der Vergangenheit und in der Zukunft liebt, muss mich auch jetzt lieben und es fühlen, das zarte Echo anderer Zeiten. Zu meiner großen Erleichterung sagt er tatsächlich ja. Wir verabreden uns für heute Abend in einem thailändischen Restaurant nicht weit von hier, alles unter dem staunenden Blick der Frau hinter dem Tisch, und ich gehe, vergessen sind Keimscott und Chaucer, ich schwebe die Marmortreppe hinab, durch die Eingangshalle und hinaus in die Oktobersonne Chicagos, renne himmelhoch jauchzend durch den Park und verscheuche kleine Hunde und Eichhörnchen.
     
    Henry: Ein normaler Tag im Oktober, sonnig und frisch. Ich arbeite in einem kleinen fensterlosen und feuchtigkeitsregulierten Raum im dritten Stock der Newberry und katalogisiere eine Sammlung marmorierter Papiere, die vor kurzem gestiftet wurde. Die Papiere sind wunderschön, das Katalogisieren aber stumpfsinnig, und ich langweile mich, schwimme in Selbstmitleid. Außerdem fühle ich mich alt, wie es nur einem achtundzwanzigjährigen Mann möglich ist, der die halbe Nacht zu teuren Wodka getrunken und erfolglos versucht hat, sich die Gunst von Ingrid Carmichel zurückzuerobern. Den ganzen Abend haben wir gestritten, aber im Moment weiß ich nicht mal worüber. Mir brummt der Schädel, ich brauche einen Kaffee. Also lasse ich die marmorierten Papiere in einem Zustand des kontrollierten Chaos zurück, marschiere durch das Büro vorbei am Informationstisch im Lesesaal, wo Isabelles Stimme zu mir sagt: »Vielleicht kann Ihnen Mr DeTamble weiterhelfen«, womit sie meint »Henry, altes Wiesel, wohin schleichst du schon wieder?« Da dreht sich diese erstaunlich schöne große schlanke Frau mit dem bernsteinfarbenen Haar um und sieht mich an wie ihren leibhaftigen Erlöser. Ich spüre ein flaues Gefühl im Magen. Offenbar kennt sie mich, ich dagegen kenne sie nicht. Weiß der Himmel, was ich diesem strahlenden Wesen gesagt, getan oder versprochen habe, deshalb frage ich gezwungenermaßen in meinem besten Bibliothekarston: »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?« Als
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