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Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition)

Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Simone Neumann
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der Pachtzins gekürzt oder gar abgeschafft wurde. Es waren harte Zeiten, und viele befürchteten, darin nur die Vorboten eines noch schlimmeren Übels zu erkennen, eines Übels, welches bald kommen und den Tag des Jüngsten Gerichts einläuten würde.
    Marie bekümmerten diese düsteren Prophezeiungen nicht, welche die Dorfbewohner in seltsamen Wolkenformationen, am Flug der Raben oder an der Farbe des Regens zu erkennen glaubten. Sie hatte dem Schrecken bereits ins Auge gesehen. Und nichts war so schrecklich wie das Leben mit dem Mann, den sie zwar nahe wähnte, von dem sie aber nicht wusste, dass er tatsächlich nur wenige Meilen entfernt in einem Walde zusammen mit einer Handvoll Mönchen lebte.

II
    S eit nunmehr einem Jahr war dieser mystische, heilige, ja fabelhafte Ort Vitus Fips eine Heimat geworden. Nie jedoch hatte er ein Auge für die wunderbare Eigentümlichkeit seiner Wohnstatt besessen, deren Anblick für einen jeden anderen, der zum ersten Mal in diese Gegend kam, so unglaublich beeindruckend war: Vollkommen unerwartet ragten plötzlich, sobald man nach einem Marsch durch einen urwüchsigen Wald eine große Lichtung betrat, fünf enorme Felsen vor dem überraschten Pilger auf– Externsteine genannt. In den fernen Alpen hätte diese Formation nur wenig Aufsehen erregt, hier aber, inmitten des zwar hügeligen, aber dennoch sanften, begrünten Teutoburger Waldes, stellten die schroffen Gesteinsblöcke eine staunenswerte Sonderbarkeit dar. Man konnte sich nicht erklären, wie diese nicht von Menschenhand geschaffene Felsenburg einst an diesen Ort gekommen war– eine Gegend, die sonst keinerlei derartige Naturerscheinungen aufwies.
    Bereits in heidnischen Zeiten hatten sich die Menschen darüber die Köpfe zerbrochen und die merkwürdigen Felsen zu ihrer Kultstätte gemacht, und auch jetzt, nach Einzug des Christentums, blieben sie ein heiliger Ort. Ein Ort, der gerade in den letzten Jahrzehnten Unmengen von Pilgern anzog, denn geschickte Gottesleute hatten diese fremdartige Kulisse gekonnt in einen Wallfahrtsort verwandelt, wo man bußfertigen Menschen die Möglichkeit bot, einen beeindruckenden Nachbau des Jerusalemer Höhlengrabes zu besuchen. Die Kreuzzüge waren lange vorüber, und mit der Rückkehr der letzten Ritter aus dem Heiligen Land sowie der endgültigen Eroberung Jerusalems durch die Mohammedaner war es frommen Pilgern und auch dazu verurteilten Sündern nur unter größten Gefahren möglich, den Originalschauplatz der Kreuzigung und Grablegung Christi aufzusuchen. Aber die zu diesem Zwecke kunstvoll bearbeiteten Externsteine boten einen willkommenen– und zudem weniger aufwendig zu erreichenden– Ersatz: Sie verfügten über eine in einer Höhle liegende Wallfahrtskapelle, einer ihrer Gipfel war zum Hügel Golgatha umgestaltet worden, ein geschickter Steinmetz hatte sogar das Grab Jesu in einen Felsen gehauen, und ein noch fähigerer Kollege hatte ein großes, eindrucksvolles Bild gemeißelt, welches auf äußerst lebendige Weise die Abnahme Christi vom Kreuze darstellte. Darüber hinaus– und das war nicht unwesentlich– waren an diesem Ort auch die gewünschten Ablassbriefe zu erhalten, ausgestellt von den hier in nahen Holzhütten wohnenden Mönchen, unter denen Vitus Fips nun seit Längerem lebte.
    Man konnte sich also an diesen Pilgersteinen gegen eine kleine oder gern auch größere Spende von allerlei Sünden befreien und somit seine Zeit im Fegefeuer beträchtlich verkürzen. Darum wunderte es nicht, dass das Kommen und Gehen von Wallfahrern aus aller Herren Länder ein großes war. Die Aufgabe von Vitus Fips war die, sich um das Wohl der häufig erschöpften Menschen zu kümmern, da viele von ihnen am Ende ihrer Kräfte waren, sobald sie das Ziel ihrer Reise erreicht hatten. Das lag nicht allein an dem weiten Marsch. Nein, um die selbst oder vom Beichtvater auferlegte Pilgerschaft noch zu erschweren, gingen einige in mit schweren Steinen behangenen Ketten, andere mit Nägeln in den Schuhen, wieder andere verzichteten während der Reise vollkommen auf Nahrung. Es gab sogar solche, die ihren Weg auf allen vieren krabbelnd bestritten. Und die Wege waren mitunter sehr lang. Nicht nur aus dem Reich reisten die Pilger an, es gab auch solche, die aus Flandern, Tirol oder Polen hierherkamen.
    Um einen dieser weit gereisten Pilger, der mit gegeißeltem, eitrig verschorftem Rücken vom Altvatergebirge in Mähren, welches zum Königreich Böhmen zählte, bis zu den Externsteinen
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