Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
ihre morgendliche Schlaftablette bekommen, doch es schien keine Medizin zu geben, die sie vor ihren inneren Ameisen bewahren konnte.
Kaum war Marisabel erwacht, zitterten ihre Hände, und die Hundezüchterin war aus dem Bett gestiegen. Nach ein paar Schritten wollte sie sich erneut hinlegen, dann wieder aufstehen, den Schmuck ablegen und die Bettdecke umdrehen, die Perücke auf- und wieder absetzen, ihr Spiegelbild mit alten Familienfotos vergleichen, den aktuellen Anblick verdrängen und zuletzt auf die Toilette gehen.
Als Mike eintrat, saß sie auf dem Bett. Die Hundezüchterin hielt ein Taschentuch in den Händen. Sie faltete es unruhig zusammen und wieder auseinander. Marisabel war vollkommen in sich gekehrt. Ihre Augen waren auf einen Punkt an der Wand gerichtet, während ihre Finger unermüdlich arbeiteten.
„Guten Tag, Frau Prinz“, sagte Mike. Marisabel schien ihn nicht zu bemerken.
Plötzlich jedoch wurde sie laut. „Geh nach Hause, meine Tochter! Ich will allein sterben!“ Sie summte eine Melodie von Pavarotti.
Mike kam direkt auf den Punkt, denn er erkannte, dass die Hundezüchterin nicht mehr richtig ansprechbar war. Er zog ein Foto aus seiner Tasche. „Frau Prinz – haben Sie diese Person in der Nacht gesehen, als Herr und Frau Knopinski starben? War diese Person vielleicht im Bad von Zimmer 2?“
Zitternd griffen Marisabels Hände nach dem Bild. „Das ist ein Engel“, hauchte sie. „Diesen Engel sehe ich täglich!“
„Aber war er auch im Haus, als Sie in der Nacht des 2. auf den 3. November durch den Knall wachgeworden sind?“
„Natürlich“, sagte die Hundezüchterin. „Wie gesagt, ich sehe ihn immer. Aber jetzt verlasse mich bitte, meine Tochter. Ich möchte alleine sterben. Ich bin wirklich bereit.“
„Ein Engel? Das ist eine wichtige Beobachtung!“
Minnie ließ sich alles haarklein erzählen.
Der alten Dame brannte noch eine allerletzte Frage unter den Nägeln. „Wie schätzen Sie Marisabels Zurechnungsfähigkeit ein? Kann man ihren Aussagen noch vertrauen?“
„Ich weiß es nicht“, meinte Mike ehrlich. „Sie hat mich mit ihrer Tochter verwechselt. Sie nannte mich meine Tochter .“
„Das ist bedenklich“, antwortete die alte Dame und schüttelte ihr weißes Haar. „Doch andererseits… es ist das letzte Puzzlestück.“
Sie blickte Mike tief in die Augen. „Es war mir eine große Ehre, Sie in Haus Holle kennengelernt zu haben, Mike. Schön, dass sich unsere Lebenswege gekreuzt haben. Aber heute… das hier wird unser letztes Treffen sein. Ich spüre, dass mir nicht mehr viel Zeit bleibt. Vielleicht noch ein, vielleicht noch zwei Tage… “
„Aber wie lautet des Rätsels Lösung?“, fragte Mike erregt. „Sie wollten mir doch alles verraten!“
„Ruhig Blut, junger Mann“, beschwichtigte ihn die alte Dame. „Ich werde mein Versprechen nicht brechen. Aber alles zu seiner Zeit.“ Minnie lächelte. „Sie vertrauen mir doch?“
„Natürlich“, entgegnete Mike.
Die weißhaarige Dame ergriff seine Hände. „Ich möchte noch eines wissen“, sagte sie leise. „Wie hat Sie die Zeit in Haus Holle verändert?“
„Fundamental“, sagte Mike. „Auf einmal sieht man das ganze Leben aus einer anderen Perspektive und man erkennt, was wirklich wichtig ist.“
Minnie blinzelte. „Sie sind doch ein Journalist. Vielleicht kommt Ihnen eine Idee, wie Sie Ihre Erlebnisse anderen Menschen mitteilen können – und Ihnen so die Angst vor dem Tod nehmen können. Versprechen Sie mir, dass Sie ein Buch über uns schreiben?“
„Dazu habe ich keine Zeit“, antwortete Mike. „Ich muss täglich arbeiten.“
„Und wenn ich Ihnen helfe?“
„Sie? Wie wollen Sie das machen?“
„Das lassen Sie mal meine Sorge sein“, meinte Minnie und lächelte. „Beizeiten werden Sie es verstehen. Ich werde Ihnen etwas schenken. Versprechen Sie mir, dass Sie mich noch einmal besuchen, wenn ich gegangen sein werde? Olimpia wird Sie anrufen…“
Sie hielt ihre Hand hoch.
Mike schlug ein.
Am Morgen des 29. Dezember war Marisabel Prinz plötzlich völlig klar.
Die Hundezüchterin saß aufrecht im Bett, als Kostja ihr Zimmer mit dem Vitamindrink des Tages betrat. Marisabel lächelte.
„Stellen Sie den Drink bitte auf den Nachttisch“, bat Frau Prinz gutgelaunt. „Heute habe ich riiiiesigen Appetit!“
Kostja erwiderte ihr Lächeln.
„Schön, dass Sie so glücklich sind“, sagte der Koch.
Er streichelte Marisabels Hand, kraulte Nepomuk und stellte den
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