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Die Fieberkurve

Die Fieberkurve

Titel: Die Fieberkurve
Autoren: Friedrich Glauser
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ebensowenig wie er gerührt hatten, nickten. Nur Marie, auf ihrem Lehnsessel, hatte die gefalteten Hände vors Gesicht gelegt...
    Der Alte schien auf etwas zu warten. Da ihn aber niemand anrührte, ging er mit kleinen, unsicheren Schritten – richtigen Greisenschritten – auf das Mädchen zu. Sehr sanft legte sich seine Hand auf die verkrampften Hände des Mädchens.
    »Weißt du Marie«, sagte er. »Ich hab' deine Mutter nicht umgebracht.«
    Marie antwortete leise:
    »Das weiß ich schon lange, Vater. Das hast du mir doch schon erzählt. Damals, im Auto, wie wir mit deinem Bruder nach Bern gefahren sind. Du hast doch nichts dafür gekonnt, daß die Mutter so Angst gehabt hat vor dem Gas...«
    Studer stand ganz einsam inmitten des Raumes. Nicht weit von ihm lag der Pater am Boden. Und der Wachtmeister erinnerte sich an seine Wohnung auf dem Kirchenfeld: Da war das Männlein, das dem Schneider Meckmeck glich, auch so still auf dem Ruhebett gelegen, und neben ihm hatte eine Tasse voll Lindenblusttee gestanden – Tee, den 's Hedy bereitet hatte...
    Es war kein großer Fall gewesen, dachte Studer. Man hat wieder einmal danebengegriffen... An allem waren die Karten schuld. Man sollte nicht Karten schlagen, dachte er dunkel... Man sollte vieles nicht tun! dachte er weiter. Beispielsweise betriebsam sein, eine Hauptrolle spielen wollen, für ein Meitschi ein Vermögen retten... Für seinen fernen Heimatkanton Millionen erobern...
    Der Mann, der so viele Namen getragen hatte, hockte auf der Armlehne und hatte sich an Maries Schulter gelehnt; ganz gebückt saß er dort und flüsterte vor sich hin. Aber so tief war die Stille in der ausgedehnten Baracke, daß jedes Wort zu verstehen war:
    »Weißt du, Marie, ich hab' mit deiner Mutter Neujahr feiern wollen. Sie hat mich gebeten, bei ihr Wache zu halten, bis sie eingeschlafen ist. Ich hab' ihre Hand gehalten. Sie hat dann wollen, ich soll ihr Karten schlagen... Da ist der Schaufelbauer als erster herausgekommen... Dann haben wir uns einen Kaffee gekocht – und sie hat ihr Schlafmittel nehmen wollen. Ich hab's ihr gegeben. Sie hat gesagt, sie will nicht ins Bett, sie will im Lehnstuhl schlafen. Ich soll ihr die Hand halten, bis sie eingeschlafen ist. Und dann soll ich den Gashahnen zudrehen. Aber dazu hätt' ich sollen auf einen Stuhl steigen. Da hat sie gesagt, ich könne ein Schnürli anbinden an den Hebel und das Schnürli durchs Schlüsselloch führen. Dann brauch'ich nur zu ziehen, hat sie gesagt, und dann schließt es den Hahnen. Und ich weck' sie nicht. Ich hab' mich nicht ausgekannt. Ich hab' an den Hahnen probiert – hab' ich vergessen, einen zu schließen? Draußen vor der Tür hab' ich dann am Schnürli gezogen. Und dann hast du sterben müssen, Josepha! Ich hab's nicht gewußt...«
    Schweigen. Der alte Mann war ganz zusammengesunken.
    »Sie hat so auf dich gewartet, die Mutter. Warum bist du nicht gekommen? Und der Jakob hat immer die Fieberkurve haben wollen. Ich hab' sie gesucht und hab' sie nicht gefunden. Die Mutter hat mich nicht erwartet. Sie hat schon die Schuhe angehabt, sie hat mit einer Freundin Silvester feiern wollen. Und da bin ich gekommen. Sie hat gelacht und erzählt, sie hätt' gerade heut' ihre Schlüssel verloren... Sie hat mir zeigen wollen, daß sie noch alle Andenken an mich hat – aber die Schublade war verschlossen, da hab' ich sie aufgesprengt...«
    Studer nickte, nickte... Da hatte man gemeint, einen weiß Gott wie raffiniert ausgeführten Mord entdeckt zu haben... Und dabei war alles Zufall gewesen... Ein Zufall, den sich der Pater zunutze gemacht hatte. Schuldig! Wenn man von Schuld reden wollte, so war einzig der Pater schuld, der Theater gespielt hatte, von Anfang bis zu Ende! Aber war es nicht unverantwortlich, daß man sich so hatte beschwindeln lassen von seinem Theaterspiel? Natürlich, ein Doppelmord paßte in das Spiel des Paters. Wenn man an einen Doppelmord glaubt, dann sucht man einen Täter – wie raffiniert ist das gespielt, wenn man den Verdacht auf sich selbst lenkt! Man weiß dabei ganz genau, daß man ein Alibi hat! Wie hat der Mann über den »Inspektor«, wie er ihn nannte, lachen müssen!
    »Wissen Sie, Capitaine«, sagte Studer, »die Tante der Marie, die Tante, die in Bern gewohnt hat, hat gewußt, daß der Mann, von dem sie sich hat scheiden lassen, nicht tot war. Ihre Schwester in Basel hat ihr von der Fieberkurve geschrieben... Hab' ich recht, Alter?«
    Der Mann nicke. Dann sagte er:
    »Mein Bruder, der
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