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Die Fieberkurve

Die Fieberkurve

Titel: Die Fieberkurve
Autoren: Friedrich Glauser
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stand tief und der kalte Wind, der von den Bergen kam, erinnerte die Männer daran, daß es noch Winter war.
    »Ich weiß nicht«, sagte Studer. »Ich habe nur Vermutungen. Sie sollten Ihre zukünftige Frau fragen; Sie erzählten mir doch, Marie habe Ihnen von Bel-Abbès aus telegraphiert und Geld verlangt? Die Reise von Bel-Abbès bis Gurama kostet nicht fünftausend Franken, auch wenn man den Umweg über Fez nimmt.«
    Die beiden kehrten um, traten in die Baracke, in der die merkwürdige Verhandlung geführt worden war. Die Mitglieder des Gerichts hatten sich entfernt. Im Lehnstuhl saß der Alte und auf der Armlehne, an ihren Vater gelehnt, Marie.
    »Marie«, fragte der Capitaine, »wo ist dein Onkel Jakob?«
    »Deine Frage klingt, mein lieber Louis«, sagte Marie bedächtig, »wie jene andere, schwerwiegendere: ›Kain, wo ist dein Bruder Abel?‹... Du mußt nicht so mißtrauisch sein, Louis. Du hast mir Geld nach Bel-Abbès geschickt. An einem Abend habe ich dort den Jakob Koller getroffen – und ich bitte dich ernstlich, ihn nie mehr meinen Onkel zu nennen. Du weißt ja selbst, Vetter Jakob, daß Pater Matthias Bern fluchtartig verlassen hat. Wir hörten dann nichts mehr von ihm. Er hatte die Kopie der Fieberkurve – das genügte ihm vorläufig. Aber Jakob Koller war wütend, weil er wußte, daß er nichts mehr von dem großen Vermögen zu erwarten hatte. Er engagierte in Lyon – ich blieb bei meinem Vater. Und ich begleitete ihn bis Colom-Béchar, führte ihn zum dortigen Platzkommandanten; der sollte ihn weiter nach Gurama schicken. Und auch dich, Vetter Jakob, hatte ich ja dorthin bestellt. Uns dreien würde es schon gelingen, den falschen Priester zu überführen...«
    »Falschen Priester! Wie du redest, Marie!« sagte Capitaine Lartigue vorwurfsvoll.
    »Ich rede, wie es mir paßt«, meinte Marie, und Studer dachte: ›Im Anfang wird es in dieser Ehe nicht sehr harmonisch zugehen – aber mit der Zeit schleift sich der eine am andern ab. Vielleicht werden die beiden sogar noch glücklich?‹ Laut sagte er: »Lassen Sie das Mädchen sprechen, Lartigue!«
    »Meinetwegen, Stüdère! Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich ihr nur einen kleinen Vorwurf gemacht habe – meine zukünftige Frau soll nicht reden wie die Heldin eines Schundromanes... Falschen Priester!« brummte er.
    »Nun«, sagte Marie gereizt. »War er vielleicht ein richtiger Priester? Er war ein falscher Priester.«
    »Ja – er war ein falscher Priester und ein falscher Mensch«, sagte der alte Geologe mit scheppernder Stimme.
    »Gewiß, Vater. Du hast recht und sie auch.« Lartigues Stimme war versöhnlich.
    ›Er nennt den Alten: du und Vater!‹ dachte Studer. ›Ein merkwürdiger Mann! Kein Wunder, daß man ihm auf dem Kriegsministerium schlechte Noten gibt... Aber er ist doch... ein Mann.‹
    Marie fuhr fort:
    »Ich hab' ihn auf der Straße in Bel-Abbès getroffen, als ich von Colom-Béchar zurückkam. Wißt ihr, ich habe nie gewußt, was Angst ist... Aber als ich Jakob Koller sah, da wußte ich es plötzlich... Schließlich, er war gut zu mir gewesen, hatte mich nach Paris mitgenommen, als ich es bei der Mutter nicht mehr aushielt. Und darum fühlte ich mich verpflichtet, ihm zu helfen. Ich fragte ihn, was ich für ihn tun könne. Wir saßen in einem kleinen arabischen Café – und ich erkannte ihn kaum wieder. Man hatte ihm die Haare kurzgeschoren, die Uniform flatterte um ihn, er war mager – seine Augen aber! Sie schossen hin und her... Ich hab' als Kind einmal zur Jagdzeit in einer Ackerfurche einen Hasen gesehen – dem seine Augen flitzten genau so ängstlich hin und her wie die des Jakob Koller...
    Er sagte: ›Gib mir Geld, Marie. Damit ich fliehen kann.‹ – Vielleicht bin ich grausam gewesen, aber der Mann hat mich angeekelt. ›Jakob Koller‹, sagte ich, ›erstens haben Sie mich nicht zu duzen. Ich will Ihnen helfen, obwohl Sie viel auf dem Gewissen haben. Wieviel brauchen Sie?‹ – ›Zehntausend Franken.‹ Da lachte ich ihn aus. Er bekomme viertausend französische Franken, keinen Centime mehr. Morgen um die gleiche Zeit solle er hier ins Café kommen, dann wolle ich ihm das Geld geben. Und dann telegraphierte ich dir, Louis. Am nächsten Abend ist er geflohen. Ich hab' ihm noch Zivilkleider verschafft. Wohin er geflohen ist, weiß ich nicht. Aber wir haben wohl nichts von ihm zu fürchten. Ich habe ihm gesagt, daß ich dir, Vetter Jakob, die ganze Geschichte erzählen werde. Er war dann noch anständig und hat
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