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Die Fieberkurve

Die Fieberkurve

Titel: Die Fieberkurve
Autoren: Friedrich Glauser
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den Rohseidevorhang vom Himmel. Und nun war er blau wie gefärbtes Glas.
    Da fuhr der Wachtmeister zusammen. Ein Horn gellte seinen Morgengesang durch den Posten, keine fünf Schritte von Studer entfernt... Hinter jener Mauerecke? Der Wachtmeister schlich sich davon. Richtig, da stand einer in resedagrüner Uniform, der Trichter seines Instrumentes war gegen die Sonne gerichtet, die müde und glanzlos hinter den roten Bergen hervorgekrochen kam – und der Mann blies der müden Sonne sein Morgenlied mitten ins Gesicht...
    Da zerbröckelte das Schweigen in den Baracken, Husten, Fluchen, Schimpfen... Plötzlich war es, als sei die Luft gesättigt mit Kaffeedampf. Gestalten schlichen vorbei – sie trugen Eimer, die mit einer braunen Brühe gefüllt waren, und ihre Gesichter waren staubig – staubig und mager. Ein paarmal wurde der Wachtmeister unsanft beiseitegeschupft – es war, als seien die Kaffeeträger blind. Aber Studer merkte nichts von diesen unsanften Berührungen. Er sah, und er wurde das Bild nicht los: den einsamen Mann in der Zelle, der sich selbst die Karten legte nach einer Nacht, die er sicher schlaflos verbracht hatte auf dem Zementblock, ohne Decken, in der kalten Zelle – und der nun die erste Morgendämmerung benutzte, um einen Blick zu tun hinter den Vorhang, der ihm die Zukunft verbarg.
    ... Ein ausgelegtes Kartenspiel in Basel, ein ausgelegtes Kartenspiel in Bern. Wie war es mit dem Hellseherkorporal? Mit dem Giovanni Collani, der am 28. September aus Géryville desertiert war, um dann wohlbehalten am 15. Januar bei seiner berittenen Kompagnie in Gurama einzutreffen? War dieser Schatten, der das erste blasse Licht eines beginnenden Tages dazu benutzte, Karten zu schlagen – ja, wer war der Schatten in der Zelle? Ein unerlaubtes Fernbleiben von dreieinhalb Monaten wird wohl in jeder Armee bestraft – das nannte man Desertion. Gewiß, man würde den Herrn Hellseherkorporal als Kranken behandeln – es gab ja einen wunderbar klingenden wissenschaftlichen Namen für jenen Zustand, von dem Korporal Collani heimgesucht – mira! heimgesucht! – worden war: man nannte das Amnesie. Und wenn man auch nur ein simpler Fahnderwachtmeister war, so konnte es vorkommen, daß man wissenschaftlich auf der Höhe war...
    Amnesie!... Gut und recht. Aber man hatte doch feststellen können, daß der Hellseherkorporal hinter Schloß und Riegel saß! Wie war es da möglich, daß besagter Collani, auch wenn er mit dem Cleman, Victor Alois, alias Koller, Mörder der Ulrike Neumann, identisch war, zu dem Mannfelsen bei der Korkeiche hatte gehen können, um den Schatz zu heben? Wie war das möglich? Ganz einfach.
    Der Mann hatte einen Komplizen gehabt.
    Wie aber – neue Frage – wie aber gedachte der Komplize zusammen mit seinem Auftraggeber den Schatz zu verwerten? Deutlicher gesagt: ihn zu Geld zu machen?
    Auf der einen Seite der Geologe Cleman, mochte er nun der Hellseherkorporal sein oder nicht, zusammen mit seinem Komplizen... Gut!... Auf der anderen Seite der Kanton Bern und Marie Cleman, vertreten durch Fahnderwachtmeister Jakob Studer. Zwei Parteien. Sehr sauber. Aber die Rechnung ging nicht auf. Damit sie aufging, brauchte es einen Mittelsmann. Mittelsmann! Schlechtes Wort! Besser: einen Dritten... Damit das Sprichwort nicht log: Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte.
    Wer war der Dritte?...
    Studer hatte es gar nicht gemerkt, daß er schon siebenmal um die gleiche Baracke geschritten war, daß es oft, sehr oft Zusammenstöße gegeben hatte mit unzufriedenen Leuten... Mochten sie fluchen! Fluchen hatte den Wachtmeister noch nie beim Denken gestört.
    Beim achten Kehr stieß er mit einem Menschen zusammen, der nicht fluchte, und dies weckte den Wachtmeister aus seinem Grübeln. Der Mensch war weiß gekleidet, er trug einen Schleier. Der Mensch sagte: »Vetter Jakob, seid Ihr schon früh auf?«
    Dumme Fragen konnte Studer nicht leiden. Darum antwortete er brummend, wenn er auf seinen beiden Beinen spazierengehe, so sei wohl anzunehmen, daß er aufgestanden sei. – Das sei eine Manier, Damen zu begrüßen! – Damen hin oder her. Soviel er sehe, sei keine Dame umewäg, höchstens es frechs Meitschi; und übrigens wolle er es ein für allemal gesagt haben: er heiße nicht »Oncle Jacques«. Das heiße ja Löli auf französisch. Und wenn er bei sich manchmal finde, er sei ein Löli, so brauche ihm dies nicht von jungen Göfli bestätigt zu werden... Und der Wachtmeister wollte auf seinen lautlosen
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