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Die Fieberkurve

Die Fieberkurve

Titel: Die Fieberkurve
Autoren: Friedrich Glauser
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Studer. Und es solle abhocken. Er hatte sein Ringbuch auf den Tisch gelegt und machte sich, Notizen während er das Mädchen ausfragte.
    Und es sah wirklich aus, als habe Wachtmeister Studer einen neuen Fall übernommen.
    »War das dein Vater?« fragte Studer und zeigte auf den Namen oben auf der Fieberkurve.
    Nicken.
    »Wie heißest?«
    »Marie... Marie Cleman.«
    »Also, ich bin der Wachtmeister Studer von Bern. Und der Mann, der dich heut morgen abgeholt hat, der hat mich um Schutz gebeten – falls etwas passiere in der Schweiz. Er hat mir ein Märli erzählt, aber an dem Märli ist eins wahr: deine Mutter ist tot.«
    Studer stockte. Er.dachte an das Pfeifen. Kein Pfeil. Kein Bolzen. Kein getupftes Band... Gas!... Gas pfiff auch, wenn es aus den Brennern strömte... Item!... Und vertiefte sich in die Fieberkurve.
    Am 18. hatte die Abend- und am 19. Juli die Morgentemperatur 37,25 betragen. Über diesem Strich war vermerkt:
    »Sulfate de quinine 2 km.«
    Seit wann gab man Chinin kilometerweise? Ein Schreibfehler? Wahrscheinlich handelte es sich um eine Einspritzung und statt 2 ccm, was die Abkürzung für Kubikzentimeter gewesen wäre, hatte irgendein Stoffel »km« geschrieben.
    Mira...
    »Dein Vater«, sagte Studer, »ist in Marokko gestorben. In Fez. Er hat dort, wie ich gehört habe, nach Erzen geschürft. Für die französische Regierung... Apropos, wer war der Mann, der dich heut am Bahnhof abgeholt hat?«
    »Mein Onkel Matthias«, sagte Marie erstaunt.
    »Stimmt«, sagte Studer. »Ich hab' ihn in Paris kennengelernt.«
    Schweigen. Der Wachtmeister saß hinter dem flachen Schreibtisch, bequem zurückgelehnt. Marie Cleman stand vor ihm und spielte mit ihrem Nastuch. In das Schweigen schrillte die Klingel des Telephons; Marie wollte aufstehen, aber Studer winkte ihr zu: sie solle nur sitzenbleiben. Er nahm den Hörer ab, sagte, wie er es von seinem Bureau im Amtshaus gewöhnt war: »Ja?«
    »Ist Frau Cleman da?«
    Eine unangenehme Stimme, schrill und laut.
    »Im Augenblick nicht, soll ich etwas ausrichten?« fragte Studer.
    »Nein! Nein! Übrigens weiß ich ja, daß Frau Cleman tot ist. Mich erwischen Sie nicht. Sie sind wohl von der Polizei, Mann? Hahahaha...« Ein richtiges Schauspielerlachen! Der Mann sprach die »Ha«. – Und dann knackte es im Hörer.
    »Wer war's?« fragte Marie ängstlich.
    »Ein Löli!« sagte Studer trocken. Und fragte gleich darauf – war es die Stimme, die ihn auf den Gedanken gebracht hatte –: »Wo ist dein Onkel Matthias?«
    »Die katholischen Priester«, meinte Marie müde, »müssen jeden Morgen ihre Messe lesen... Wo sie auch sind.
    Sonst brauchen sie, glaub' ich, einen Dispens... Vom Papst – oder vom Bischof – ich weiß nicht...« Sie seufzte, zog die Fieberkurve zu sich heran und begann sie eifrig zu studieren.
    »Was ist das?« fragte sie plötzlich und deutete auf das blaue Kreuz.
    »Das?« Studer stand hinter dem Mädchen. »Das wird wohl der Todestag deines Vaters sein.«
    »Nein!« Marie schrie das Wort. Dann fuhr sie ruhiger fort: »Mein Vater ist am 20. Juli gestorben. Ich hab' selbst den Totenschein gesehen und den Brief vom General! Am 20. Juli 1917 ist mein Vater gestorben.«
    Sie schwieg und auch Studer hielt den Mund.
    Nach einer Weile sprach Marie weiter: Die Mutter habe es oft genug erzählt. Am einundzwanzigsten Juli sei ein Telegramm gekommen, das Telegramm müsse noch bei den Andenken sein, dort im Schreibtisch, in der zweituntersten Schublade. Und dann, etwa vierzehn Tage später, habe der Briefträger die große gelbe Enveloppe gebracht. Nicht viel habe sie enthalten. Den Paß des Vaters, viertausend Franken in Noten der algerischen Staatsbank und den Beileidsbrief eines französischen Generals. Lyautey habe der Mann geheißen. Ein sehr schmeichelhafter Brief: Wie gut Herr Cleman die Interessen Frankreichs vertreten habe, wie dankbar das Land Herrn Cleman sei, daß er zwei deutsche Spione entlarvt habe...
    »Zwei Spione?« fragte Studer. Er saß auf einem Stuhl in der Ecke beim offenen Fenster, hatte die Ellbogen auf die Schenkel gestützt und die Hände gefaltet. Er starrte zu Boden. »Zwei Spione?« wiederholte er.
    Marie schloß das Fenster. Sie blickte auf den Hof, ihre Finger trommelten einen eintönigen Marsch gegen die Scheiben und ihr Atem ließ auf dem Glase einen trüben Fleck entstehen: Tröpflein bildeten sich, kollerten herab, bis der Fensterrahmen sie aufhielt.
    »Ja, zwei Spione.« Maries Stimme war eintönig. »Die Gebrüder
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