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Die Fieberkurve

Die Fieberkurve

Titel: Die Fieberkurve
Autoren: Friedrich Glauser
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Puls, schüttelte den Kopf und legte die kalte Hand vorsichtig auf das geschnitzte Holz zurück.
    Winzig war die Küche wirklich. Anderthalb Meter auf zwei, ein Korridor eher. Über dem Gasréchaud hing an der Wand ein Holzgestell. Blechdosen – ehemals weiß emailliert, jetzt gebräunt, die Glasur abgestoßen: »Kaffee«, »Mehl«, »Salz«... Alles war ärmlich. Und durch den leichten Gasgeruch, der noch zurückblieb, stach deutlich ein anderer: Kampfer...
    Es roch nach alter Frau, nach einsamer, alter Frau.
    Es war ein ganz bestimmter Geruch, den Studer kannte; er kannte ihn aus den winzigen Wohnungen in der Metzgergasse, wo es hin und wieder einer alten Frau zu langweilig wurde oder zu einsam und sie dann den Gashahn aufdrehte. Manchmal aber war es weder Einsamkeit noch Langeweile; sondern Not...
    Studer trat vor die Wohnungstür. Links am Türpfosten, unter dem weißen Klingelknopf, ein Schild:
    Josepha Cleman-Hornuss
Witwe
    Witwe!... Als ob Witwe ein Beruf wäre!...
    Er rief dem Meitschi, das am Geländer der Laube lehnte – g'späßig war das Haus gebaut: die Laube ging auf ein Gärtlein, obwohl die Wohnung im dritten Stockwerk lag, und das Gärtlein war von einer Mauer umgeben, in die eine Türe eingelassen war; wohin führte die Tür?... wohl auf eine Nebengasse – er rief dem Meitschi und es kam näher.
    Es war natürlich und selbstverständlich, daß der Wachtmeister das Meitschi sanft zu dem Lehnstuhl führte, in dem eine alte Frau friedlich schlummerte.
    Aber während die Tochter ihr winziges Nastuch zog und sich die Tränen trocknete, fiel dem Wachtmeister etwas auf:
    Die alte Frau im Lehnstuhl trug einen roten Schlafrock, der mit Kaffeeflecken übersät war. Aber an den Füßen trug sie hohe Schnürstiefel, Ausgehschuhe – nein! keinerlei Pantoffeln!
    Dann suchte Studer nach dem Gaszähler: Er hockte oben an der Wand, gleich neben der Wohnungstür, auf einem Brett und sah mit seinen Zifferblättern aus wie ein grünes und feistes und grimassierendes Gesicht.
    Aber der Haupthahn stand schief!...
    Er stand schief. Er bildete, wollte man genau sein, einen Winkel von fünfundvierzig Grad...
    Warum war er nur halb geöffnet? Warum nicht ganz?
    Im Grunde ging einen der ganze Fall ja nichts an. Man war Wachtmeister bei der Berner Fahndungspolizei, da sollten die Basler sehen, wie sie zu Schlag kamen. Übrigens, es schien ein Selbstmord zu sein, ein Selbstmord durch Leuchtgas – nichts Ungewöhnliches. Und nichts Ungewohntes...
    Studer ging in den Wohnraum, der zugleich Schlafzimmer war – die Couch in der Ecke! – und suchte nun nach dem Telephonbuch. Es lag auf dem Schreibtisch, neben einem ausgebreiteten Kartenspiel. Während er nach der Nummer der Sanitätspolizei suchte, dachte der Wachtmeister verschwommen, wie ungewöhnlich es eigentlich war, daß eine Selbstmörderin vor dem Freitode noch Patiencen legte... Da fiel ein Blatt Papier aus dem Telephonbuch zu Boden, Studer hob es auf, legte es neben das ausgebreitete Kartenspiel – merkwürdig, oben in der Ecke links, die Karten waren in vier Reihen ausgelegt, lag der Piquebub, der Schuflebuur... Studer stellte die Nummer ein. Es summte, summte. Der Sanitätspolizist hatte wohl ausgiebig Silvester gefeiert. Endlich meldete sich eine teigige Stimme. Studer gab Auskunft: Spalenberg 12, dritter Stock, Josepha Cleman-Hornuss. Selbstmord... Dann hängte er an.
    Er hielt das Papier noch in der Hand, das aus dem Telephonbuch zu Boden geflattert war. Es war vergilbt, zusammengefaltet, die unbeschriebene Seite nach außen. Studer öffnete es. – Eine Fieberkurve...
HÔPITAL MILITAIRE DE FEZ.
Nom: Cleman, Victor Alois. Profession: Géologue.
Nationalité: Suisse.
Entrée: 12/7/1917. – Paludisme.
    Ins Deutsche übertragen hieß dies, daß es sich um einen gewissen Cleman Victor Alois handelte; sein Beruf: Geologe; sein Heimatland: die Schweiz; das Datum seines Eintrittes: zwölfter Juli neunzehnhundertsiebenzehn. Und erkrankt war der Mann an Sumpffieber, an Malaria.
    Die Fieberkurve hatte steile Spitzen, sie lief vom 12. bis zum 30. Juli. Und hinter dem 30. Juli hatte ein Blaustift ein Kreuz gezeichnet. Am 30. Juli war also der Cleman Alois Victor, Geologe, Schweizer, gestorben.
    Cleman?... Cleman-Hornuss?... Spalenberg 12?...
    Studer zog sein Ringbuch. Da stand es, auf der ersten Seite des Weihnachtsgeschenkes!...
    »Meitschi!« rief Studer; das Fräulein im Pelzjackett schien über die Anrede nicht übermäßig erstaunt zu sein.
    »Los, Meitschi«, sagte
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