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Die Farben der Finsternis (German Edition)

Die Farben der Finsternis (German Edition)

Titel: Die Farben der Finsternis (German Edition)
Autoren: Sarah Pinborough
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Bei der Vorstellung erschauerte ihre Seele. Selbst für ihre Maßstäbe war diese Unterlassung grundverkehrt. Wie konnte sie nur? Wie konnte es sein, dass sie keine Angst um sie gehabt hatte? Ein, zwei Schläge lang schlug ihr Herz sehr laut, aber dann fiel es wieder in seinen langsamen Rhythmus. Ihre Eltern hatten sich bestimmt erkundigt. Wenn Hayley etwas passiert wäre, hätten sie angerufen. Von diesem Gedanken ließ sie sich trösten, obwohl sie wusste, dass er mit dem eigentlichen Problem nichts zu tun hatte. Sie war das Problem.
    Im Schlaf träumte sie davon, in der Dunkelheit durch endlose Flure zu laufen und einen Streifen leuchtend goldenen Lichts zu verfolgen, der jedoch immer außer Reichweite blieb. Am nächsten Morgen würde sie sich nicht daran erinnern. Das tat sie nie.

    Katie Dodds hatte den Fernseher vor etwa einer Stunde ausgeschaltet und starrte seitdem an die Decke. Ihr war gar nicht richtig bewusst, dass sie ein scharfes Messer in der Hand hielt. Die Nachrichten waren die ganze Nacht imKreis verlaufen und mittlerweile zu einem Wirrwarr verschwommen. Die Nachrichtensprecher redeten zu schnell und die Bilder waren verworren. Katie zog ungeschickt die Ärmel hoch und seufzte, als sie wieder die Schwere in ihren Gliedern spürte. Der Schein der Glühbirne an der Decke spiegelte sich in ihren dunklen, stumpfen Augen. Sie wusste nicht genau, wie spät es war. Vielleicht vier Uhr morgens? Draußen war es dunkel, aber die Finsternis lichtete sich bereits. Bis auf ihren flachen Atem war es still in ihrem Zimmer, aber trotz der späten Stunde waren die anderen im Haus keineswegs leise. Unter ihrer Tür wehte Gelächter herein, doch sie erkannte es nicht. Ihre Haut spannte sich, als sie kurz die Stirn krauszog. Das stimmte so nicht. Sie kannte dieses Lachen, aber es passte nicht zu den Gesichtern der anderen Studenten in diesem Haus. Es war fehl am Platz. Genau wie sie.
    Während sie an die Decke starrte, bewegte sie den Mund, aber kein Laut drang heraus. Es war kein guter Tag gewesen. Irgendwas war mit ihrem Gehirn nicht in Ordnung; es tat nicht weh, aber es fühlte sich an, als würde jemand an einer Ecke ziehen. Schon am Nachmittag waren ihr nie die richtigen Worte eingefallen. Sie war froh gewesen, als sie sich in die Ruhe ihres Zimmers zurückziehen konnte, fern von den anderen. Sie hatte kurz überlegt, ins Krankenhaus zu gehen – doch bis auf diese sonderbare Verwirrung hatte sie keine Schmerzen vorzuweisen, und nach den Bombenanschlägen würde sowieso niemand Zeit für sie haben. Am Ende war es ihr viel zu anstrengend gewesen.
    Ihr Kopf leerte sich. Sie wollte sich auf etwas anderes als das Summen in ihren Ohren konzentrieren. Ihr Herz raste und ihre Augen zwangen sich nach innen zu sehen. Sie schnappte nach Luft. Sie wollte nicht hinsehen. Sie hatte nie hinsehen wollen. Sie packte das Messer fester. Dernichtssagende Deckenanstrich strudelte in einer Million Farben und wollte sie einsaugen. Einen winzigen Augenblick lang sah es so aus, als würde ihr eigenes Gesicht dahinter auf sie herabblicken.
    Es dauerte eine Weile, bis sie eine gewisse Kühle an ihren Handgelenken spürte. Sie senkte den Blick. Ihre linke Hand ließ das schmale scharfe Messer fallen, als hätte sie ein schlechtes Gewissen, weil man sie bei einer strafbaren Handlung erwischt hatte. Sie runzelte wieder die Stirn. Sollte das nicht wehtun? Sollte es nicht wehtun, wenn man so sehr blutete? Sie ließ den Blick vom linken, aufgeschnittenen Handgelenk zum rechten wandern, während das Blut aus ihr heraus auf die Bettdecke lief. Katie seufzte. Es kostete sie all ihre Kraft, den Finger in die triefnasse Schweinerei zu tunken und den einzigen Satz an die Wand zu schreiben, der ihr noch im Kopf geblieben war.
    Als sie fertig war, schloss sie die Augen und starb. Der Tod war eine Erleichterung.

3
    Cass Jones nahm in dem unordentlichen Studentenwohnheim zwei Stufen auf einmal, ohne die Leute zu beachten, die nervös aus den verschiedenen Zimmern lugten. Er war müde. Er war dauernd so verdammt müde. Vielleicht waren die anderen Polizisten seit den Bombenanschlägen vor zwei Wochen langsam auf seinem Stand, aber er war ihnen schon vorher weit voraus gewesen. Die letzten sechs Monate hatten sich endlos hingezogen, ein ewiger Kreislauf aus Verhören, Verhaftungen, Aussagen, ganz zu schweigen von den Gegenreaktionen, die man auslöst, wenn man aufdeckt, wie korrupt die eigenen Leute sind. Er litt weiter unter der Verärgerung, da das
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