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Die Farbe der Träume

Die Farbe der Träume

Titel: Die Farbe der Träume
Autoren: Rose Tremain
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hörte er seine Stimme, noch konnte er sich an den süßen Duft seiner Haare erinnern.
    Alles, was Pao Yi wusste, und alles, was er wissen wollte, war, dass er die vollkommene Frau für sich gefunden hatte. Und jetzt würde er sie lieben. Für sie würde er ein echter »Connaisseur« sein. Er würde die Knospe ihrer Lust finden und zum Erblühen bringen. Er würde jeden Zentimeter ihres Körpers erkunden und mit seinen Händen, seinen Lippen, seinem Geschlecht und seinem Kopf streicheln. Er würde in ihr schlafen, mit dem Kopf auf ihrer Brust. Er würde sie mit solch zärtlicher Sanftheit an sich drücken, dass sie und er zu einem tanzenden Paar würden, das sich im selben berauschenden Rhythmus bewegte. Er würde ihr überallhin mit den Augen folgen. Sie würde ihm überallhin mit den Augen folgen. Es würde kein Stolpern oder Fallen, kein Verletzen, keinen Schock, keine Beschädigung und keinen Tod geben. Es würde nur sie beide geben: Pao Yi und Hel Jet; Hel Jet und Pao Yi.
    Dass die Welt seine Liebe nicht gutheißen, dass sie versuchen würde, sie zu zerstören, dessen war Pao Yi sich absolut sicher, aber er schob den Gedanken beiseite. Er gehörte der Zukunft an, und Pao Yi war fest entschlossen, in der Gegenwart zu leben und sich über die Zukunft keine Gedanken zu machen.
    Am ungeheuerlichsten (und wie ungeheuerlich es war, wusste Pao Yi schon, während er es tat) war, dass er die Bilder seiner Familie aus dem Regal nahm und sie hinter dem Holzbrett versteckte, auf dem die Namen seiner Vorfahren standen. Dass er so etwas tat, dass er die Menschen, die er geliebt hatte, in den dunklen Raum zwischen der Wand und seiner Ahnentafel verbannte, hätte ihn entsetzen und beschämen müssen, doch das war nicht der Fall. Er wollte nicht, dass sie sahen, wo er war und was er tat, und deshalb versteckte er sie.
    Und Pao Yi hatte den Eindruck, dass Harriet den Raum, der ihrer beider Existenz umschloss, ebenfalls auf eine absolute Weise besetzte, eine Weise, die sowohl der Vergangenheit wie auch der Zukunft den Zutritt verweigerte. Wenn sie manchmal hinausblickte, dann nur, so glaubte er, um sich zu vergewissern, dass es immer noch schneite, dass die Wege zum Meer verschwunden waren, dass nichts und niemand sie stören konnte.
    Hin und wieder zog sie die Kleider an, die sie getragen hatte, als die Flut kam, und die sie gewaschen und zum Trocknen in die Bäume gehängt hatte. Doch meistens trug sie Pao Yis Hose und Jacke aus grauer Baumwolle, oder sie hatte gar nichts an, und Pao Yi ließ seinen Blick auf ihrem weißen Körper ruhen, der am Tag durch das eisige Licht, das durch die Ritze neben dem Sackleinenfenster drang, noch weißer aussah. Es war das Licht des Südpols, das Licht einer reinen Weite, einer glitzernden, leeren, unbereisten Welt. Er wusste, dass er diesen Anblick bis ans Ende seiner Tage im Gedächtnis behalten würde.
III
    Wie Pao Yi erwartet hatte, begriff Harriet ebenfalls die Rolle, die die Zeit in ihrer Liebe spielte. Sie wusste, dass sie und ihr Liebster im Land der langen weißen Wolke durch reinen Zufall an diesem abgeschiedenen Ort zueinander gekommen waren und dass die Vergangenheit dort nichts zu suchen hatte.
    Manchmal drang sie aber doch in ihre Träume, jene kaumvergangene Zeit auf den Goldfeldern, und sie sah Joseph in der Flut ertrinken, die das Grabungsfeld von Kokatahi überrollt hatte. Sie glaubte, sein geisterhaftes leidendes Gesicht zu sehen. Doch wenn sie erwachte und feststellte, dass sie nicht bei Joseph, sondern in Pao Yis Armen lag, schob sie alles andere aus ihrem Kopf.
    Harriet war viel zu klug, viel zu vernünftig, um nicht zu wissen, dass eines Tages eine andere Zukunft für sie anbrechen würde. Manchmal, wenn Pao Yi die Hütte verließ und die wackelige Tür hinter sich schloss, zwang Harriet sich dazu, sich vorzustellen, dass er für immer gegangen war. Sie stellte sich vor, wie er die lange, mühselige Strecke bis nach Hokitika und zum Meer zurücklegte, wie er dann auf ein Schiff wartete und an Bord ging, ohne sich darum zu scheren, ob sie weiter lebte oder sich ertränkte, weil ihr Liebster sie verlassen hatte. Und manchmal wurde ihre Angst dann so groß, dass sie die Tür der Hütte öffnete und auf den schneebedeckten Garten hinunterblickte, nur um ihn zu sehen, nur um ihn mit den Augen festzuhalten. Aber es gab auch Zeiten, in denen selbst das nicht genügte und sie ihn rufen oder sogar aufsuchen musste. Als wollte er sich davonmachen, als würde er, wenn sie ihn nicht
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