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Die Familie ohne Namen

Die Familie ohne Namen

Titel: Die Familie ohne Namen
Autoren: Jules Verne
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zurückgestoßen. Ueberall kannte man ihn, als ob er ein Kainszeichen an der Stirn trüge, das ihn der allgemeinen Verachtung bezeichnete.
    Inzwischen nahte sich der November seinem Ende. Welch’ mühselige Wanderschaft, wenn es nun galt, der schlechten Witterung, dem eisigen Winde, der schrecklichen Kälte Trotz zu bieten, welche den Winter in diesem Lande der Seen begleiten! Beim Durchzuge durch die Dörfer kauften die Söhne dann einige Lebensmittel, während der Vater sich außerhalb jener aufhielt. Sie schliefen, wenn es möglich war, im Grunde verlassener Hütten, sonst aber in Aushöhlungen von Felsen oder unter den Bäumen jener grenzenlosen Wälder, welche das Land bedecken.
    Simon Morgaz wurde mit der Zeit immer düsterer und menschenscheuer; er hörte nicht auf, sich vor den Seinigen zu entschuldigen, als ob ein unsichtbarer Verfolger sich an seine Fersen geheftet und immer gerufen hätte: Verräther!… Verräther! Bald schien es, als wagte er gar nicht mehr seiner Frau und seinen Kindern ins Gesicht zu sehen. Bridget tröstete ihn wohl mit zärtlichen Worten, und wenn Joann noch immer Stillschweigen bewahrte, so hörte doch Johann nicht auf, sich auszusprechen.
    »Vater!… Vater!… rief er wiederholt, lass’ Dich nicht niederdrücken! Die Zeit wird die Verleumder noch entlarven!… Man wird erkennen, daß man sich geirrt… daß gegen Dich weiter nichts als der Schein spricht. Du, Vater, Du sollst Deine Freunde, Deine Heimat verrathen haben!…
    – Nein!… Nein!… antwortete Simon Morgaz«, doch mit so schwacher Stimme, daß man ihn kaum verstehen konnte.
    Von Dorf zu Dorf irrend, gelangte die Familie so bis zum nördlichen Ende des Sees, einige Meilen vom Fort Toronto. Folgte sie von hier aus dem Ufer weiter, so galt es nur bis zum Niagaraflusse hinunter zu gehen und diesen an der Stelle, wo er sich in den See ergießt, zu überschreiten, um endlich am amerikanischen Ufer zu sein.
    Wollte Simon Morgaz hier wohl Halt machen oder schien es nicht rathsamer, weit tiefer nach Westen hinaus zu ziehen, um eine so entfernte Gegend zu erreichen, daß das Gerücht von seiner Infamie noch nicht bis dahin gedrungen sein konnte? Doch welchen Ort würde er dann wählen? Seine Frau und seine Kinder wußten darüber nichts, da er immer schweigend vor sich hinwanderte und sie ihm nur zu folgen hatten.
    Am 3. December gegen Abend machten die Unglücklichen von Hunger und Anstrengung erschöpft in einer Höhle Halt, welche von Buschwerk und Dornen halb verdeckt war – wahrscheinlich ein zur Zeit verlassener Schlupfwinkel eines Raubthieres. Die wenigen ihnen noch verbliebenen Nahrungsmittel waren auf dem Sande ausgebreitet worden. Bridget brach unter der Bürde der physischen und moralischen Anstrengungen fast zusammen. Jedenfalls war es unumgänglich, daß die Familie Morgaz im nächsten Dorfe einige Tage die Gastfreundschaft eines Indianerstammes genießen mußte – ein Wunsch, den auch die Canadier jenen niemals abschlugen.
    Vom Hunger zernagt, genossen Joann und Johann ein wenig kaltes Wild. An diesem Abend aber wollten oder konnten Simon Morgaz und Bridget nichts zu sich nehmen.
    »Vater, Du mußt Deine Kräfte erhalten!« bat Johann.
    Simon Morgaz antwortete nicht.
    »Mein Vater, sagte da Joann – und das war das erste und einzige Mal, daß er seit dem Fortgange aus Cambly das Wort an ihn richtete – mein Vater, wir können nicht mehr weiter… Unsere Mutter würde jeder ferneren Anstrengung unterliegen. Jetzt befinden wir uns ja nahe der amerikanischen Grenze; willst Du auch noch über diese hinausgehen?«
    Simon Morgaz blickte seinen älteren Sohn an und seine Augen senkten sich fast sogleich wieder. Joann fuhr fort:
    »Sieh doch, in welchem Zustand unsere Mutter sich befindet! Sie kann kaum noch eine Bewegung machen! Diese Erschöpfung raubt ihr auch noch den letzten Rest von Willenskraft, der ihr vielleicht geblieben… Morgen wird es ihr unmöglich sein, sich zu erheben. Mein Bruder und ich, wir werden sie natürlich tragen… Doch müssen wir nun wissen, wohin Du ziehen willst, und das darf auch nicht allzufern sein. Hast Du darüber einen Entschluß gefaßt, Vater?«
     

    Die Straße Petit-Champlain in Quebec.
     
    Simon Morgaz antwortete nicht; er beugte den Kopf herab und zog sich in den Hintergrund der Höhle zurück.
    Die Nacht war hereingebrochen. Kein Geräusch störte die Einsamkeit, dicke Wolken bedeckten den Himmel und drohten sich in einen gleichmäßigen Nebel umzuwandeln. Kein Windhauch
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