Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die falsche Herrin

Die falsche Herrin

Titel: Die falsche Herrin
Autoren: Margrit Schriber
Vom Netzwerk:
Gefährlich im Sommer, unpassierbar im Winter. Um anzukommen am Ort der Träume, muss die Kleine diese Massen aus Eis und Stein bezwingen. Der Mensch soll sich die Erde untertan machen – es ist nicht nur der Pfarrer von Schwyz, der solches seinen Schafen verkündet. Diesen Spruch hämmerte Joannes Bossert mit der Faust in den Kopf der Kleinen, derweil er die Schürzenbändel aufzog und unter ihr Röckchen griff.
    Der Mensch hat das Paradies verloren. Sie nickt, zieht den Wollhut tief über den Haarschopf und macht sich auf den Weg, dieses Paradies im Kopf.
     
     
    Reisläufer kehren in dieser Zeit unermesslich reich über den Gotthard zurück. Sie erzählen von Palästen mit Kuppeln aus purem Gold. Vielfarbige Vögel stolzieren in den Gärten umher, wie noch kein Gewöhnlicher sie gesehen hat. Es gibt Früchte, soviel man essen mag. Da herrscht eine einzige milde Jahreszeit. Man hört von riesigen Schiffen und einem Gewässer ohne Ufer, auf dem diese Schiffe am Horizont versinken. Doch wunderbarerweise kehren sie nach Monaten zurück, berstend von Gold und Perlen, beladen mit duftenden Gewürzen und sonderbaren Menschenwesen. Die Heimkehrer verkaufen die Wesen zu hohem Preis. Immer mehr Schiffe schaffen immer mehr von diesen Wesen heran und auf dem Markt werden immer höhere Preise erzielt.
    Es ist die Zeit der Entdecker, der Wunder und unerhörten Begegnungen. Die Nachrichten über unermessliche Schätze und Merkwürdigkeiten auf anderen Erdteilen überschlagen sich. Abertausende setzen sich in Bewegung. Wer keine Bleibe hat, bricht auf, schifft sich ein, bietet seine Dienste einem fremden Regenten an.
    Aber erst einmal müssen die Berge überwunden werden.
    Diese Kette von Bergen. Reisende umgehen sie, wenn es einen anderen Weg gibt, und schlagen sich durch Schluchten und unwegsame Wälder. Aber die Bergler, die sich auskennen im Fels und klettern können wie Gemsen, sie wollen nicht fort. Sie nehmen vor der Kleinen die Hände nicht aus dem Sack. Fahren mit der Nase quer über den fernen Grat.
    «Dort ist ein Weg. Dertwäretsi. Geh! Und dann bleib!»
    Die Bergler wollen auch nicht, dass einer von der anderen Seite herüberkommt. Kein Hiesiger sieht einen Nutzen darin, da oben im Fels einem Fremden zu begegnen. Wer sein Vieh auf der Genossame weiden darf, bleibt hier. Nur die Not treibt fort. Ohne obrigkeitlichen Befehl wäre auch Vater Inderbitzin nie ins Toggenburgische marschiert. Nicht um das göttliche Manna. Welcher friedliebende und arbeitsame Mann überklettert denn diese Steilwände, nur um auf der anderen Seite im ebenen Feld in die zahlenmäßig überlegene Artillerie der Berner und Zürcher zu geraten?
    Aber Anna Maria hat nichts zu verlieren. Die Berge vermauern ihr seit sechzehn Jahren den Blick. Sie hat keinen Vorteil gehabt. Sie will sie hinter sich bringen, die Berge und Joannes Bossert. Eine Ebene will sie sehen. Schnurgerade Straßen, übersichtliche Gärten und einen Himmel ohne Ende.
     
     
    Im Sommer sei der Übergang möglich, meint ein Jäger, der in einem Unterstand seine Mahlzeit mit ihr teilt. Da brechen hüben und drüben die Händler, Söldner, Viehherden und Mauleselkarawanen auf. Deren Trampelpfad ist weithin zu sehen, Jauchzer weisen die Richtung. Falls das Mädchen sich trotzdem verirre, stoße es irgendwann auf einen Hütebub oder ein Kräuter sammelndes Hutzelweib. Die wissen immer, welches der kürzeste und gefahrloseste Pfad in diese oder jene Himmelsrichtung ist. In den Bergen hilft man einander. Manch ein Trampelpfad endet im Juhee. Den einen Grat benutzen nur Gemsen, der andere kann überwunden werden, falls man den Einstieg findet. Das Mädchen kann sich einer Viehherde anschließen, die zum Verkauf über den Gotthard getrieben wird, oder Söldnern, die unterwegs sind zu ihrem Regiment. Oder sie hängt sich an die Mauleselkarawane eines Händlers. Jeder ist dort oben dem anderen dienlich. Jene, die von drüben kommen, kennen den Standort der Heere. Sie wissen, ob es gut ist oder schlecht, wenn ein Söldner, ein Händler, ein Maulesel oder ein einfältiges Mädchen in diese oder die andere Richtung geht.
    «Auf dem Gotthard ruhst du aus, Mädchen! Dort siehst du die Reiche von Europa. Im Süden Seine Heiligkeit, im Westen der Sonnenkönig, im Norden der Soldatenkönig und im Osten die österreichisch-ungarische Weiberherrschaft. Dort auf dem Grat kannst du dich ausstrecken, die Füße in der Luft, den Kopf auf einem Büschel Alpenrosen. Du kannst die abgerupften Blüten
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher