Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
Vom Netzwerk:
in der Hand, erstarren ließ. Gaspard nickte. An den Tischen ringsum ließen sich die Anwesenden die Kehlen volllaufen, kotzten auf den Boden, die Augen mit ihren verwässerten Pupillen wurden zu gemaserten Kelchen. Wenn sie lachten, war es, als wollten sich ihre Augen in die Umlaufbahn werfen und wie Satelliten um die erheiterten Köpfe schweben. Unter der roten Haut und den kandierten Nasen platzten im Einklang die Adern zu einem Feuerwerk, einem Feuer von Blutschwämmen. Und zur Begleitung dieser grausigen Orgie verfaulter Mäuler und roter Gesichter wurde einmütig gerülpst, mit der Faust auf den Tisch geschlagen, wurden die Ärsche der Mädchen, der Alten und der Huren vom Seineufer betatscht – alles in einem ohrenbetäubenden Radau, einer Raserei, als gälte es, die Not auszutreiben, dieses wuchernde Geschwür von Elend und Verzweiflung mit den Wurzeln auszureißen, den nässenden Schorf der Schmach ein für alle Mal abzuschaben.
    Gaspard versuchte sich auf Lucas’ Worte zu konzentrieren: »… sie war nicht böse, du weißt schon, man tut, was man kann. Ich denke nicht mehr daran. Nicht mehr oft, ich meine, nur manchmal noch … Wenn du dich ein bisschen allein fühlst, ist es nicht so schlecht, jemanden zu haben, der sich um einen kümmert, um das Haus …« Gaspard stimmte seinen Worten zu, obwohl sie in ihm keine Resonanz auslösten. »Warum machst du diese Arbeit?«, fragte er. Lucas ärgerte sich nicht, dass Gaspard das Thema wechselte, aber die Frage brachte ihn in Verlegenheit: »Na, warum denn nicht? Du stellst vielleicht Fragen! Die oder eine andere, was ändert das schon? Ist doch überall dasselbe. Und ich tauge nicht zu mehr. Dazu ist unsereiner gut, oder etwa nicht? Die Scheiße wegschaffen, darin herumstochern. Von oben betrachtet ist es genau das, ein großer Haufen Scheiße. Du kannst Holz aussortieren, Gemüse verkaufen, Wasser tragen, es ist doch alles einerlei. Nicht unbedingt der Form nach, aber egal, was man macht, es stinkt und hat keinen Wert mehr. Eine Welt aus lauter Scheiße, wie ich oft sage. Aber man darf das nicht so wichtig nehmen, man wurde in diese Welt hineingeboren, man wird darin sterben. Alles eine Frage der Zeit. Braucht man bloß zu warten, um die beiden Enden zusammenzufügen.« Dann nickte er und schenkte sich noch ein Glas ein. »Wo schläfst du?«, fragte er noch. Gaspard zuckte die Schultern und schwieg. Er wagte es nicht, von dem Durchgang mit dem Rattendreck zu sprechen, in dem er die Nacht verbracht hatte. Lucas schien zu verstehen.
    »Kannst zu mir kommen, wenn du willst, ich hab ein Zimmer in Saint-Antoine. Nichts Großartiges, aber es ist genug Platz für zwei. Und bald wirst du etwas Eigenes finden.«
    »Danke, danke«, antwortete Gaspard. Sie verstummten, bis Lucas fand, es sei genug geschwiegen worden. Er stand auf und warf ein paar Münzen auf den von Flaschen überquellenden Tisch.
    »Gehen wir ein wenig, das baut den Wein schneller ab.«
    Unter ihren torkelnden Schritten zogen die Straßen vorbei. Paris entblößte seine lumpigen Unterröcke, seine nächtliche Scham. Die Straßen, die unter Gaspards Blick in alle Richtungen strömten, liefen, so glaubte er, in einem einzigen Punkt zusammen. Sie alle, diese identischen Straßen, Gassen, Plätze, Avenuen hatten dasselbe Ziel: die traumhafte Vulva, auf die sie mit schwankendem Schritt zustrebten. Denn die Stadt, glaubte er weiter in seinem Rausch, rief sie zu sich, zog sie in ihre Eingeweide, wollte sie in ihrem Bauch. Gaspard versuchte zu protestieren, wollte Lucas bitten umzukehren, doch wohin? Er hatte keine Ahnung, auf welches Ziel sie hinsteuerten. Wieder zur Seine, aber warum? Alle Wege führten in die Eingeweide von Paris. Er ließ sich von Lucas führen, der sich mit der Unerschütterlichkeit einer Amöbe durch diese Gedärme hindurchschlängelte. Irgendwann meldete sich der Hunger, und sie kauften ein wenig Brot und ein Stück Speckschwarte. Die karge Kost stillte den Hunger, beruhigte ihn. Sie gingen weiter, wurden von ein paar Bettlern angesprochen, wehrten ihre aufdringlichen Hände ab, die ihre Taschen befühlten, sie betatschten, um zu prüfen, ob sie gut im Fleisch standen. In einer Gasse wurden sie von aufdringlichen Prostituierten angequatscht. Lucas befummelte sie, der Blick funkelnd vor Gier, betastete ihre Titten und knochigen Hintern und wurde zurückgestoßen, torkelte mitten auf die Straße. »Der hat kein Geld, der Saufkopf, und meint, er kann umsonst grapschen?«, blökte eine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher