Die Erzaehlungen 1900-1906
und gerade in der Liebe,
befriedigte Hesse nicht so sehr wie der Reiz des Unerreichbaren. Zu lieben und abgewiesen zu werden, aber auch der freiwillige Verzicht gehören in diesen Geschichten zusammen. Nur die Leidenschaft selbst, als erhöhtes Lebensgefühl,
zählt. Die Vorahnung einer späteren Enttäuschung oder die Angst vor einer
Erniedrigung des Ideals sind stärker als der Wunsch nach Erfüllung, wie in der Erzählung
Eine Sonate , worin die gefürchtete Resignation aus dem Blick-
winkel einer Frau geschildert wird. Hedwig Dillenius ertappt sich bei einer
Lüge, damit die Entbehrungen, die sie in der Ehe erleidet, nicht nach außen
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dringen. Zum Gefühl des Mangels tritt das der Scham.
Die traumhafte, wie hingetuscht wirkende Impression, die bei Klängen von
Chopins
Nocturne Es-Dur
Erinnerungen des Erzählers an seine Mutter
weckt, der sie auf die Pianistin projiziert, greift zurück auf Hesses Elisabeth-Erlebnis aus seinen Basler Jahren (vgl.
Das Tagebuch 1900
von Hermann
Lauscher, den ersten Roman Der Dichter. Ein Buch der Sehnsucht und
Brie-
fe an Elisabeth , SW 1), ein Motiv, das Hesse 1906 bis 1909 in den verschie-
denen Fassungen des Gertrud -Romans wieder aufgreifen wird.
Auch der 1906 aufgezeichnete fiktive Bericht über
Eine Fußreise im Herbst
en-
det mit einer Ernüchterung. Der Ich-Erzähler begibt sich darin auf eine sen-
timentale Reise, um nach zehnjähriger Abwesenheit zu sehen, was aus der
stolzen und prächtigen Julie geworden ist, die seine
damaligen phantastisch
kühnen Ansichten und Lebenspläne verstanden und geteilt hatte . Er trifft
auf eine gesetzte verheiratete Frau, deren ehemaliger Charme fast ganz ver-
blüht ist, die ihn am liebsten gar nicht empfangen hätte und mit
Sie
anre-
det, um dann von nichts anderem als ihren Kindern, deren Krankheiten sowie
Schul- und Erziehungssorgen zu plaudern. Der Frühnebel, der ihn bei seiner
Abreise umgibt und der
alles Benachbarte und scheinbar Zusammengehörige
trennt , paßt zu dieser Erfahrung mit Julie (die den Vornamen von Hesses im
Hermann Lauscher als
Lulu
vorkommende, ledig gebliebene Jugendliebe
Julie Hellmann trägt). Doch unauslöschlich bleibt die Erinnerung an das, was er dieser Liebe damals verdankte:
die fröhliche Kraft, für sie zu leben, zu
streiten, durch Feuer und Wasser zu gehen. Sich wegwerfen können für das
Lächeln einer Frau, das ist Glück und das ist mir unverloren.
Die 1902 und 1903 entstandenen Erzählungen
Peter Bastians Jugend
und
Hans Amstein
gehören noch nicht in den engeren Kreis der
Gerbersau -
Geschichten, wenngleich sie im selben Umfeld spielen. In
Peter Bastians Ju-
gend
werden die Lokalitäten noch unverfremdet bei ihrem wirklichen Namen
genannt. Der Ich-Erzähler aus dem nahe bei Calw gelegenen Bergstädtchen
Zavelstein verbringt seine Schulzeit und Lehrjahre in Hesses Heimatstadt, bevor er sein abenteuerliches Wanderleben als Schlossergeselle beginnt. In der Erzählung
Hans Amstein
dagegen ist nur von einem
steinigen Schwarz-
waldnest
die Rede. Da Hesse die im renommierenden Tonfall einer Studen-
tengesellschaft vorgetragene Geschichte nicht selbst erlebt hat, sondern aus Schilderungen seiner Mutter kannte, sind dort die lokalen Bezüge undeutlicher.
Peter Bastians Jugend , das ergiebigste der Fragmente seiner
Geschich-
ten um Quorm
(vgl. Jugendschriften SW 1, S. 578ff.), entstand
in der
Zeit des Peter Camenzind , wie Hesse in einer Vorbemerkung zur Maschi-
nenabschrift der Erzählung bemerkt, die er 1927 an
Velhagen & Klasings
Monatshefte
sandte. Peter Bastian sei parallel dazu,
ja eigentlich in Kon-
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kurrenz mit ihm entstanden, denn erst als ich endgültig auf den Peter Bastian verzichtete, war es mir möglich, den Camenzind fertig zu schreiben . Diese Erzählung, fährt er fort, sei aber weniger ein Bruder des Camenzind
als
vielmehr ein Vorläufer des Knulp. Die Figur des Landstreichers Quorm sollte, nach meinem damaligen Plan, die Hauptfigur des Buches werden. Was mit
ihr gemeint war, habe ich im Knulp viele Jahre später dargestellt.
Das zeigt
auch das im Typoskript fehlende Ende des Fragmentes, das mit den Sätzen
abschließt:
Nämlich das war ihm wichtiger als alles andere: frei zu sein und
gehen zu können, wohin es ihm paßte. Lange hielt er es nirgends aus. Es gab
Orte, die er so liebte, wie man sonst wohl ein Weib liebhat; diese besucht er oft und immer wieder, aber nach wenig Tagen war er immer schon
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