Die Erzaehlungen 1900-1906
Theophil Brachvogel, die feine rechte
Hand um das Fensterkreuz gelegt, und sah dem endlosen scheuen Flug der
Wolken zu, hingegeben und ergriffen, die Seele eines großen Gedichtes voll.
Auf dem breiten Studiertische lag neben Heften, Briefbogen und Schreib-
zeug der zweite Band Novalis aufgeschlagen. Weit frischer als der kritisch
veranlagte Rettig hatte der beschaulichere Hauslehrer sich die jugendliche
Fähigkeit bewahrt, die Werke der Dichter wie süßen Wein zu genießen, ohne
Widerstreben dem berauschenden Fluß ihrer erhabenen Sprache hingegeben,
die Seele wie eine bebende Schale bis zum Rande von tiefer Stimmung erfüllt, von welcher je und je ein schwerer voller Tropfen überlaufend als eigenes Gedicht verklang.
Ihn hatte seit einigen Tagen die sanfte Gewalt dieses tiefsten und süßesten
Romantikers erfaßt, dessen dunkeltönige, von Duft und Ahnung gesättigte
Sprache sein williges Herz in ihre weichen Rhythmen zwang. Das klang so
mystisch wohllaut wie ein ferner Strom in tiefer Nacht, von Wolkenflucht und blauem Sternlicht überwölbt, voll scheuen Wissens um alle Geheimnisse des
Lebens und alle zarten Heimlichkeiten des Gedankens.
Zum Tisch zurückkehrend, las er nochmals laut den wunderbaren Abschnitt:
Abwärts wend’ ich mich zu der heiligen, unaussprechlichen, geheimnisvol-
len Nacht. Fernab liegt die Welt, in eine tiefe Gruft versenkt: wüst und einsam ist ihre Stelle. In den Saiten der Brust weht tiefe Wehmut. – Fernen der Erinnerung, Wünsche der Jugend, der Kindheit Träume, des ganzen langen Lebens
kurze Freuden und vergebliche Hoffnungen kommen in grauen Kleidern, wie
Abendnebel nach der Sonne Untergang.
Die schwermütige Schönheit der Nachthymnen zog durch die Brust des jun-
gen Schwärmers wie ein Wetterleuchten durch eine dunkle, fruchtbare Früh-
sommernacht.
Noch eine Stunde blieb er allein im stillen Zimmer, bald lesend, bald hin und wider schreitend, bald durch das Fenster die einbrechende schwarze Aprilnacht betrachtend. Dann trat er aus der Türe, die er offenstehen ließ, auf den dunklen Flur und tastete sich die Wand entlang und die Treppe hinauf. Oben klopfte
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er leise an eine Tür, hinter welcher sein Freund Hermann Rosius wohnte. Er
fand den Fleißigen mit seinem Lieblingsbuch, Bengels Gnomon, beschäftigt.
Der fromme, stille Student begrüßte erfreut den älteren Freund, an dem er
mit Bewunderung und Zärtlichkeit hing, und räumte ihm eilig einen mit den
Resten eines spärlichen Abendessens besetzten Stuhl ab. Brachvogel zog den
mitgebrachten Band Novalis aus der Tasche, legte ihn auf den Tisch ins Licht und deutete auf den Titel.
Kennst du den?
fragte er den Theologen.
Rosius schüttelte den Kopf.
Nur dem Namen nach , sagte er.
Ich glaube, er hängt irgendwie mit Schlei-
ermacher zusammen. Liest du ihn jetzt?
Ich will dir ein Stück vorlesen.
Er las den ersten Hymnus an die Nacht. Seine wohllautende Stimme schmieg-
te sich dem ernsten Pathos der Dichtung schlicht und edel an. Das ist der
Augenblick der erhabensten und reinsten Wirkung für jeden Dichter, wenn
eine junge, begeisterte Seele sein Werk dem Freunde mitteilt.
Beide Jünglinge enthielten sich des Urteilens. Schweigend ließen sie den in
ihnen erweckten tiefen Ton des Heimwehs zu Ende klingen. Die kleine Stu-
dierlampe schien rötlich durch das einfache Zimmer.
Endlich brach Rosius das Schweigen. Er redete leise und schüchtern und
errötete im Halbdunkel.
Ich glaube, es ist jetzt die rechte Stunde, dir ein
Geständnis zu machen.
Brachvogel gab keine Antwort. Er nickte nur und richtete den Blick auf das
verlegen freundliche Gesicht des Freundes. Leise fuhr dieser fort:
Ich wollte es dir schon lang erzählen, aber der Augenblick ist nie so recht
gekommen. – Ich hoffe, mich im Sommer zu verloben.
Was du sagst! Eigentlich zwar nimmt mich’s nicht wunder, ihr Theologen
tretet ja gewöhnlich schon mit Bräuten ins Amt. Aber doch –! Mit wem denn,
du?
Mit einem Fräulein –
So? Das dachte ich mir ungefähr auch.
Helene Elster. Sie ist eine Pflegetochter des Amtmannes in unserem Städt-
chen. Aber wir wollen nicht zu viel davon reden – es ist ja alles noch so
ungewiß.
Aber du hast doch schon mit ihr darüber gesprochen? Oder schreibt ihr
einander?
Was denkst du! Nein, nein. Aber in den Sommerferien will ich sie fragen,
und ich glaube fast, sie wird ja sagen. Ich hoffe es sogar bestimmt.
Ist sie schön?
O ja.
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Erzähle doch! Ist sie blond?
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