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Die erregte Republik

Die erregte Republik

Titel: Die erregte Republik
Autoren: Thymian Bussemer
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Demokratie und auch des Parlaments durch mehr zivilgesellschaftliche Teilhabe. Dies gilt, obwohl Bürgerinitiativen, wie gesagt, in der Regel von gebildeten und eher wohlhabenden Mitgliedern der Mittelschicht getragen werden. Das steht jedoch so lange nicht im schichtenspezifischen Gegensatz zum Gemeinwohl, sondern fördert die Demokratie, wie Bürgervoten nicht durch Entscheidungsmacht gegen demokratisch gewählte Politik ausgespielt werden und deren Ergebnisse konterkarieren. Denn von ihrer sozialen Basis und von den Abstimmungsquoren her erreichen sie nie die Legitimität allgemeiner direkter Wahlen, in denen die weniger Reichen, Qualifizierten oder Mächtigen eine Chance haben, sich allein durch ihre Zahl Gehör zu verschaffen.
    Doch auch mittelschichtenspezifische Bürgerinitiativen können eine positive Wirkung haben, zum Beispiel in Gestalt eines »Bürgerbegehrens«, für das ich anders als für Volksentscheide plädiere. Denn Bürgerbegehren können das Parlament zur Behandlung von Problemen zwingen, die aus dem Blick von Parlamentariern geraten sind. Sie können den Finger in Wunden legen, die Parteien aus taktischen oder anderen Gründen umgehen, und sie können zu öffentlichen Debatten anregen, die die Solidität parlamentarischer Entscheidungen befördern.
    |15| Vor allem aber können sie ein gemeinnütziges Gegengewicht zu finanzkräftigen und kommunikationsstarken Lobbys bilden und es Politikerinnen und Politikern erleichtern, sich mit einem breiteren Spektrum von Interessen auseinanderzusetzen und dadurch eher gemeinwohlorientiert zu verhalten. Dieser Weg ist zwar mühsam, erfordert einen langen Atem und bleibt im doppelten Sinne eine »dauernde Aufgabe«. Es ist der Weg von Albert Camus’ Sisyphos, den man überhaupt als Symbol demokratischer Politik bezeichnen kann. Die radikale Alternative führt jedoch nicht zu einer besseren Lösung, sondern zur Stärkung der ohnehin Starken oder zur Ausschaltung der Freiheit.
    Dies gilt umso mehr, als Parlamente und Regierungen auf Landes- wie auf Bundesebene immer mehr in transnationale Politiken eingebunden sind und viele politische Herausforderungen nur noch transnational gelöst werden können. Damit erhöht sich die Vermittlungsnotwendigkeit der gesellschaftlichen Interessenpluralität. Auf der Ebene der Europäischen Union etwa haben wir noch weniger »ein Volk« (für Volksentscheide) als auf der nationalen Ebene. Zivilgesellschaftliches Engagement wird deshalb immer wichtiger, um zu einer Identifikation der Gesellschaften in Europa mit der Europäischen Union zu gelangen. Das geht nicht ohne Konflikte mit Regierungen, Parlamenten und dem Privatsektor, die miteinander in einer antagonistischen Kooperation agieren müssen, um einerseits den legitimen Interessengegensätzen gerecht zu werden, aber andererseits auch die notwendige, möglichst am Gemeinwohl orientierte Zusammenarbeit und den Kompromiss nicht aus dem Auge zu verlieren.
    Solche Art der Partnerschaft im Konflikt ist im Übrigen typisch für freiheitliche demokratische Politik: im Parlament wie im vorparlamentarischen Raum, in den Parteien, den Verbänden |16| und den zivilgesellschaftlichen Organisationen. Das ist die Kunst, die wir üben und politisch praktizieren müssen –
learning by doing
–, um unsere demokratische Freiheit zu bewahren und zu stärken. Damit stärken wir gemeinwohlorientierte Entscheidungen von Parlamenten und Regierungen.
    Konkret heißt dies für längerfristige politische Vorhaben wie Stuttgart 21, offensiv in eine öffentliche Diskussion mit allen zu treten, die ihre Perspektiven und Fachkenntnisse einbringen wollen. Es stärkt die Solidität politischer Entscheidungen, wenn man möglichst viele Gesichtspunkte vorab kennt und erörtern kann, anstatt die Öffentlichkeit, durch ein mal raffiniertes, mal unglückliches Öffentlichkeitsmanagement, vor vollendete Tatsachen zu stellen. Damit werden Interessengegensätze nicht immer ausgeräumt, aber ihre Durchsichtigkeit bietet die Chance zu kreativen Win-win-Lösungen oder zumindest zu soliden Kompromissen, die nicht mehr im Nachhinein skandalisierbar sind. Teilhabe ermöglicht eine breitere Identifikation mit Projekten und dann auch ihre leichtere Durchführung.
     
    Thymian Bussemer hat ein ungemein wichtiges Buch geschrieben. Unserer Demokratie ist zu wünschen, dass es möglichst viele Leser findet, die sich nicht mit der Oberfläche der politischen und medialen Erscheinungen begnügen oder resignieren möchten,
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