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Die Erbin

Die Erbin

Titel: Die Erbin
Autoren: John Grisham
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kluger Mann. Ich bezweifle, dass wir das je erfahren werden«, sagte sie schließlich.
    Willie Traynor kam mit einer Platte mit belegten Broten in Jakes Kanzlei vorbei und lud sich selbst zum Mittagessen ein. Jake und Harry Rex saßen oben auf dem Balkon und tranken, Kaffee für Jake, Bier für Harry Rex. Sie wussten die Sandwichs zu schätzen und bedienten sich. Willie nahm ein Bier.
    »Als ich damals die Zeitung hatte, so um das Jahr 1975, hat irgendwer ein Buch über Lynchmorde veröffentlicht. Er hatte seine Hausaufgaben gemacht, hatte jede Menge gruselige Fotos gefunden, und es las sich gut. Nach seinen Angaben – der Mann kam aus dem Norden und brannte darauf, uns schlecht da stehen zu lassen – wurden von 1882 bis 1968 in den Vereinigten Staaten dreitausendfünfhundert Schwarze gelyncht. Es gab auch dreizehnhundert Lynchmorde an Weißen, aber da waren die meisten Opfer Pferdediebe drüben im Westen. Ab 1900 wurden fast nur Schwarze gelyncht, auch ein paar Frauen und Kinder waren dabei.«
    »Muss das beim Mittagessen sein?«, fragte Harry Rex.
    »Ich wusste gar nicht, dass du so einen empfindlichen Magen hast, Dicker«, konterte Willie. »Ratet mal, welcher Bundesstaat die meisten Lynchmorde zu verzeichnen hat.«
    »Ich traue mich gar nicht zu fragen«, sagte Jake.
    »Zu Recht. Wir sind Nummer eins, mit fast sechshundert, und bis auf vierzig waren alle Opfer schwarz. Georgia liegt dicht dahinter auf dem zweiten Platz, Texas ebenfalls dicht dahinter auf dem dritten. Ich erinnere mich, wie ich das Buch las und mir dachte, sechshundert ist ganz schön viel. Wie viele davon mögen in Ford County passiert sein? Ich ging einhundert Jahre zurück und las jede Ausgabe der Times . Dabei habe ich nur drei gefunden, alle schwarz, und keine Erwähnung von Sylvester Rinds.«
    »Wer hat diese Zahlen zusammengestellt?«, fragte Jake.
    »Es hat Untersuchungen gegeben, aber ihre Glaubwürdigkeit ist zweifelhaft.«
    »Wenn sechshundert bekannt waren«, sagte Harry Rex, »müs sen es viel mehr gewesen sein.«
    Willie trank einen Schluck Bier. »Ratet, wie viele Anklagen es wegen Lynchmordes gegeben hat.«
    »Keine.«
    »So ist es. Nicht eine einzige. Es war Gewohnheitsrecht, und die Schwarzen waren Freiwild.«
    »Da kann einem schlecht werden«, sagte Jake.
    »So geht es Ihren Geschworenen auch, lieber Freund«, sagte Willie, »und deswegen sind sie auf Ihrer Seite.«
    Um halb zwei versammelten sich die Geschworenen erneut im Beratungszimmer. Es wurde kein Wort über das Verfahren ge sprochen. Ein Gerichtsdiener führte sie in den Sitzungssaal. Die Leinwand war verschwunden. Es gab keine weiteren Zeugen.
    Richter Atlee blickte von seinem Richtertisch herab. »Mr. Bri gance, Ihr Schlussvortrag.«
    Jake trat ohne Block ans Rednerpult, er hatte keine Notizen. »Dies wird das kürzeste Schlussplädoyer in der Geschichte die ses Gerichtssaals, weil nichts, was ich sagen könnte, so über zeugend wäre wie die Aussage von Ancil Hubbard. Je länger ich rede, desto größer wird der Abstand zwischen ihm und Ihren Beratungen, deshalb werde ich mich kurz fassen. Ich möchte, dass Sie sich an alles erinnern, was er gesagt hat. Nicht, dass irgendwer, der dies gehört hat, es jemals vergessen könnte. Prozesse nehmen oft eine unerwartete Wendung. Als die Verhandlung heute Morgen begann, konnte keiner von uns vorhersehen, dass ein Lynchmord erklären würde, warum Seth Hubbard sein Vermögen Lettie Lang hinterlassen hat. Sein Vater hat ihren Großvater im Jahr 1930 gelyncht. Und nachdem er ihn ermordet hatte, eignete er sich sein Land an und vertrieb seine Familie, und Ancil Hubbard hat diese Geschichte viel besser erzählt, als ich es je könnte. Sechs Monate lang haben viele von uns sich gefragt, warum Seth getan hat, was er getan hat. Jetzt wissen wir es. Jetzt ist es klar.
    Ich persönlich empfinde neue Bewunderung für Seth Hubbard, einen Mann, dem ich nie begegnet bin. Trotz aller seiner Fehler – wir haben alle Fehler – war er ein überragender Mensch. Wen kennen Sie sonst noch, der in zehn Jahren ein solches Vermögen hätte anhäufen können? Aber darüber hinaus ist es ihm irgendwie gelungen, Esther, Lois und Lettie nicht aus den Augen zu verlieren. Rund fünfzig Jahre später rief er Lettie an und offerierte ihr eine Stelle – sie hatte sich nicht bei ihm gemeldet. Er hatte alles geplant. Er war genial. Ich bewundere Seth Hubbard für seinen Mut. Er wusste, dass er im Sterben lag, und weigerte sich trotzdem, das zu tun,
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