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Die Erben der Nacht - Pyras

Die Erben der Nacht - Pyras

Titel: Die Erben der Nacht - Pyras
Autoren: Ulrike Schweikert
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sich nicht blicken, und schließlich musste sie dem Ruf der Servientin folgen, die sie zu ihrem Sarg führte und den Deckel über ihr schloss. Missmutig grübelte Alisa vor sich hin, was das alles bedeuten mochte, bis mit dem Sonnenaufgang die Todesstarre von ihr Besitz ergriff.

    Am späten Morgen trafen sich in einem nach dem großen Brand errichteten Geschäftshaus der Innenstadt einige Männer. Nach und nach führte der Portier sie durch das repräsentative Treppenhaus in den ersten Stock und meldete Name, Firma und Position des Neuankömmlings den bereits Anwesenden. Da waren ein Direktor vom Bankhaus Godeffroy, drei Senatoren der Stadt, einige leitende Angestellte der Norddeutschen Bank und Kaufmänner in Vertretung der neu gegründeten Finanzdeputation. Namen wie: Siegmund Hinrichsen, Direktor Rauers und Freiherr Albertus von Ohlendorf rief der alte Portier in die Runde, verbeugte sich tief und nahm Mantel, Stock und Handschuhe entgegen. Endlich ergriff ein Mann das Wort, der die vierzig kaum überschritten haben mochte. Im Gegensatz zu den meisten anderen im Raum bewegte er sich mit jugendlichem Elan.
    »Wollen wir anfangen, meine Herren«, rief er, trat an den großen Tisch in der Mitte und rollte schwungvoll einen Plan auf. Mit weit ausholender Geste deutete er auf die Zeichnung, die weitgehend von seiner Hand stammte, und der Stolz in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Hier ist sie: Ihre Vision, die Hamburg in eine neue Zeit führen wird. Treten Sie näher, damit ich Ihnen die Einzelheiten erläutern kann.«
    »Hat Herr Tietgens vom Bankhaus Warburg sein Kommen nicht auch zugesagt?«, wagte Direktor Rauers zu unterbrechen.
    Der Oberingenieur der Baudeputation wurde ein wenig rot. »Äh, ja, einer seiner Dienstboten war in aller Frühe schon bei mir und hat seinen Herrn entschuldigt. Er ist - äh - indisponiert.«
    »Ein Schutzmann hat ihn im Morgengrauen auf einer Parkbank an
der Alster aufgegriffen«, raunte Siegmund Hinrichsen dem Freiherrn neben sich zu. »Das Hemd zerrissen und beschmutzt.«
    »Ein Überfall?«, erkundigte sich von Ohlendorf.
    »Anscheinend nicht. Seine Brieftasche hatte er noch bei sich, doch er litt an einer seltsamen Schwäche und Verwirrung, die er sich und auch dem Schutzmann nicht recht erklären konnte.«
    »Sein Weg hat ihn am Abend zuvor nicht zufällig zu den einschlägigen Häusern am Spielbudenplatz geführt?«, vermutete der Freiherr, und die beiden Herren tauschten vielsagende Blicke, ehe sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Oberingenieur und seinem Plan zuwandten, der sich vorteilhaft auf die Bankkonten der Anwesenden und das Gesicht Hamburgs auswirken sollte.
    »Was sind das für Linien?«, fragte Karl Georg Münchmeyer, Gründer des Handels- und Privatbankhauses Münchmeyer & Co, der mit seinem Sohn Alwin gekommen war. Kurzsichtig beugte er sich über die Pläne. »Ist das Blaue Wasser?«
    Einige der Herren warfen sich belustigte Blicke zu. Jemand ließ ein unterdrücktes Kichern hören.
    Der Oberingenieur war für einige Augenblicke aus dem Konzept gebracht, dann wiederholte er seine letzten Sätze und fuhr zur Verdeutlichung mit dem Zeigefinger an einer roten Umrisslinie entlang. Plötzlich hielt er inne und begann, den Plan wieder zusammenzurollen.
    »Ah, jetzt gibt es ein frisches Bier«, sagte jemand in der hinteren Reihe, doch Franz Andreas Meyer ignorierte den Einwurf.
    »Meine Herren, machen wir einen kleinen Ausflug und sehen wir uns den Schauplatz des Geschehens an. Ich werde Ihnen die Pläne vor Ort erläutern.«
    Der Vorschlag fand allgemeine Zustimmung. Mäntel, Hüte und Stöcke wurden gebracht und Droschken bestellt. Kurz darauf rollten die Herren aus der Innenstadt heraus und über die Brücke zum Wandrahm hinüber.
    Die Bewohner des Gängeviertels staunten nicht schlecht über den Besuch von so vornehm gekleideten Herren. So etwas bekamen die Menschen, die hier zusammengedrängt in den kleinen dunklen Buden
lebten, nicht häufig zu sehen. Die in Lumpen gehüllten Kinder rotteten sich in Gruppen zusammen und folgten den Männern in respektvollem Abstand. Sie rissen Augen und Münder auf und spitzten die Ohren, doch sie verstanden nichts von dem, was der Mann mit der großen Papierrolle sagte. Die Herren gingen durch die engen Gassen, betraten die schmutzigen Hinterhöfe und legten die Köpfe in den Nacken, um den Blick zu dem winzigen blauen Rechteck hinaufwandern zu lassen, was alles war, was die Bewohner dieses Viertels jemals vom Himmel zu sehen
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