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Die Erben der Nacht - Pyras

Die Erben der Nacht - Pyras

Titel: Die Erben der Nacht - Pyras
Autoren: Ulrike Schweikert
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sich Ivy um. Trotz ihres hohen Alters von einhundert Jahren war sie nicht oft von Irland fort gewesen und hatte die meiste Zeit ihres Daseins in den einsamen Bergen und Mooren im Westen der Insel zugebracht.
    Im Osten schied sich im Hintergrund die Gasanstalt mit ihren riesigen, von Metallgittern umschlungenen Zylindern und den hohen, rauchenden Schornsteinen vom Nachthimmel, im Norden tauchte die Stadt zwischen Masten und Wanten auf. Häuser. Nichts als Häuser. Geschlossene Reihen an den Ufern des Flusses und der Fleete, zu beiden Seiten von Straßen und Gassen. Fünf, sechs Stockwerke mit hohen, steilen Dächern, die vielerorts den Kaufleuten als Lager dienten, erklärte Alisa. Überragt wurden sie von den Kirchtürmen von St. Katherinen, St. Nikolai und weiter im Westen dem Michel, wie Alisa ihn nannte.

    »Sind die Dracas schon angekommen?«, fragte Ivy, als sie nach links in eine breite, von unzähligen schweren Karren zerfurchte Straße einbogen. Ihre Brust fühlte sich ein wenig eng an, als sich Franz Leopolds schöne Gestalt in ihren Gedanken formte.
    »Oh ja«, bestätigte Alisa. »Liebenswürdig, höflich und feinfühlig wie immer! Marie Luise, Karl Philipp, Anna Christina und unser verehrter Franz Leopold.« Zum Glück schien sie nichts von Ivys Beklemmung zu bemerken. Wo war er? Warum war Leo nicht mitgekommen, sie zu begrüßen? Hatte er ihr nicht noch zum Abschied seine Freundschaft geschworen? Waren in den Monaten in Wien die alten Vorurteile wieder erwacht? Wie sollte sie seinen kalten Blick der Verachtung ertragen? Mit Mühe riss Ivy ihre Gedanken von ihm los.
    »Sagtest du Anna Christina?«
    Alisa nickte. »Ja, ich habe mich auch gewundert, doch es war unverkennbar unsere geliebte Dracas, die ich schon zetern hören konnte, noch ehe sie den Zug verlassen hatte. Ich dachte ja, sie würde im Sommer das Ritual feiern. Wenn es nach ihr gegangen wäre, dann würde sie jetzt zu den vollwertigen Clanmitgliedern der Dracas zählen und hätte die Akademie verlassen. Jedenfalls ist sie fuchsteufelswild und noch unausstehlicher als früher, wenn das überhaupt möglich ist.«
    »Immerhin hat sie in Irland an unserer Seite gekämpft - und sie weiß mit einem Degen umzugehen!«
    »Ja, das schon«, gab Alisa widerstrebend zu. »Aber ein Biest ist sie dennoch. Komm schon Ivy. Sei doch nicht immer so entsetzlich verständnisvoll!«
    »Du meinst, ein wenig Intoleranz wäre gesund? Vielleicht mit einem Schuss Überheblichkeit und Verachtung?«
    Alisa grinste. »So wie du das sagst, hört es sich recht widerlich an. Das klingt ja fast nach unserem Freund Leo.«
    Ivy schwieg. Alisa hakte sich bei der Freundin unter. »Komm, wir sind gleich da. Luciano kann es sicher kaum erwarten, dich zu sehen. Er war richtig erbost, dass Dame Elina den anderen Erben nicht gestattet hat, das Empfangskomitee zu begleiten.«

    »Ach, deshalb sind sie nicht mitgekommen«, sagte Ivy leichthin und spürte, wie der Druck in ihrer Kehle nachließ.
    Die Hamburger Vampire führten ihre Gäste um das Hafenbecken herum und dann an den ärmlichen Häusern des Gängeviertels entlang auf die Landzunge des Kehrwieders hinaus, wo sich mit Blick auf den Binnenhafen die prächtigen barocken Kaufmannshäuser erhoben. Einladend öffnete Hindrik eine der zweiflügeligen Haustüren.
    »Tretet ein«, forderte er die Gäste auf. »Dame Elina erwartet euch.«

    Der Wagen schwankte, als der Kutscher in das Rondell vor der Oper einbog und dann zögernd vor der Freitreppe zum Halten kam.
    »Haben die Herren eine Loge abonniert?«, fragte der Kutscher.
    »Warum zum Teufel will er das wissen?«, fragte Oscar Wilde seinen Freund Bram Stoker.
    »Es gibt auf der rechten Seite einen Pavillon zum Einlass der Abonnenten«, gab der Kutscher Auskunft. »Damit sie sich nicht mit dem Volk, das im Saal sitzt, hier im Eingang drängen müssen.« Er nickte in Richtung der immer dichter werdenden Menge auf den Stufen, die zum goldverzierten Haupteingang des neuen Opernbaus hinaufführten.
    »Und der Pavillon auf der linken Seite?«, erkundigte sich Oscar, dessen Stimme noch immer mürrisch klang.
    »Das ist der Zugang zur Kaiserloge, aber mangels eines französischen Kaisers heutzutage verschlossen. Als Garnier die Oper plante, hatten wir noch Napoleon III.«, fügte der Kutscher hinzu, so als müsse er sich bei den Gästen von der Insel dafür entschuldigen. »Wo soll ich die Herren nun rauslassen?«
    »Hier, das ist schon recht«, beeilte sich Bram zu versichern und reichte
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