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Die dunkle Treppe

Die dunkle Treppe

Titel: Die dunkle Treppe
Autoren: Helen Fitzgerald
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schlürfte ich meine siebte Bacardi-Cola. Ich hatte eine Sitzreihe ganz für mich allein. Inzwischen fühlte ich mich ganz munter und war sogar mutig genug, einen kurzen Blick aus dem Fenster zu werfen. Unter mir erstreckte sich Australien, und ein Ende war nicht in Sicht. Bislang hatte ich in einem Australien der natürlichen Grenzen gelebt (das Bergland, Melbourne, die alte Eisenbahnlinie, die Farm der O’Hairs) und die gewaltige Ausdehnung meines Heimatlandes niemals richtig begriffen. Es wollte einfach kein Ende nehmen. Von Sitz 23b aus ähnelte Australien einem endlosen, trockenen Pfannkuchen.
    Ich hatte all meinen Mut sammeln müssen, um den ersten Drink zu bestellen, weil ich keine Ahnung hatte, ob man dafür extra bezahlen musste. Dies war der erste Flug meines Lebens, und ich wusste nichts über die Sitten und Gebräuche an Bord eines Flugzeugs. »Haben Sie noch einen Wunsch?«, fragte die Stewardess, und ich war zu nervös, um »Ja« zu antworten. Also schaute ich zu, wie in mehreren Reihen Drinks bestellt wurden, und erst als ich mir absolut sicher war, dass das nichts kostete, orderte ich in rascher Folge sieben Gläser.
    »Ich bin Bronny!«, sagte ich zu dem Typen auf Platz 24c. »Ich habe zu viel getrunken.«
    »Du solltest nie einem Mann sagen, dass du zu viel getrunken hast«, entgegnete er ohne die Spur eines Lächelns.
    »Alles klar«, sagte ich und lehnte mich mit hochrotem Kopf zurück. Was hatte er mir damit sagen wollen?
    »Was bedeutet es, wenn ein Typ sagt: ›Erzähl einem Mann nie, dass du zu viel getrunken hast?‹«, flüsterte ich der Frau auf Platz 23a zu.
    »Dass er ein Arschloch ist«, sagte sie, und ich lächelte. Aber ich wusste nicht, warum ich lächelte, und ich hatte schon wieder keine Ahnung, was gemeint war.
    Als Nächstes ging ich auf die Toilette und kotzte in eine Metallschüssel, die von jedem Hinterteil zu künden schien, das auf ihr gesessen hatte: Blutflecken, an den Rändern klebender Dünnpfiff, eine lose baumelnde Toilettensitzabdeckung, ein Gummihandschuh. Ich trug meinen Teil zu der Geschichte bei (Bacardi-Cola und neuartig geformte Cheesles ), warf zwei Tictacs ein und kehrte an meinen Platz zurück. Dann schlief ich für sehr lange Zeit.
    Wie sich herausstellte, dauert eine sehr lange Zeit auf Langstreckenflügen zweieinhalb Stunden. Bis zum Umsteigen in Singapur blieben mir danach immer noch zwei Stunden. Ich hatte einen Kater, meine Beine zuckten nervös, der flache, trockene Pfannkuchen unter mir war schwarzem, unheimlich wirkendem Wasser gewichen, und dann ließ der Pilot auch noch verlauten, dass wir in zehntausend Metern Höhe flögen. Zehntausend Meter! Das ist wirklich viel. Ich schloss die Augen und betete zu Gott – falls es ihn gäbe –, ob ich, wenn ich denn schon abstürzen müsse, wenigstens so langsam heruntertrudeln könne (mit vier nacheinander abnippelnden Motoren), dass noch genug Zeit bliebe, um meinen Lieben Abschiedsbriefe zu schreiben, ehe wir auf den zementharten Ozean knallten.
    Ich wurde ein bisschen panisch. Was wollte ich hier eigentlich? Ich hatte kein Geld, keine Bekannten, keine Klamotten und keinen Job in Aussicht. Also bat ich um Stift und Papier, und mir war völlig egal, was ich als Fluggast der Quantas durfte oder nicht. (Der Gruppe von Schulabgängern in Reihe elf und zwölf nach zu urteilen, durfte man so ziemlich alles, wonach einem der Sinn stand – inklusive sich aus größerer Entfernung gegenseitig Cashewnüsse in den Mund zu werfen.) Nach dem Eintreffen der Schreibutensilien nahm ich einen zweiten Brief an Papa und Ursula in Angriff:
    Lieber Papa, liebe Ursula,

    ich habe eine Fehler gemacht. Ich habe keine Bekannten, keine Klamotten und keinen Job in Aussicht. Ich werde so lange sparen, bis ich nach Hause zurückfliegen kann …
    Ich zerriss den Brief. Was brachte es, wenn sie sich Sorgen machten? Bis zur Zwischenlandung blieben sowieso nur noch zehn Minuten.
    Ich verließ das Flugzeug und schlurfte in ein riesiges Flughafengebäude. Unzählige Menschen gingen zielstrebig auf oder neben automatischen Laufbändern. Alle schienen genau zu wissen, wo sie hinwollten. Ich folgte ihnen, hüpfte auch auf das Laufband und hielt mich vorsichtig an der seitlichen Begrenzung fest.
    In diesem Moment sah ich den Typen von Sitz 24c wieder. Hamish hieß er und war ziemlich klein. Er trug eine John-Lennon-Brille und hatte rote Lippen. Ich lächelte ihn an.
    »Immer noch betrunken?«
    Ich zuckte mit den Schultern.
    »Das erste Mal,
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